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Götterblut - Kapitel 1: Ein (un)moralisches Angebot

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Götterblut - Kapitel 1: Ein (un)moralisches Angebot - Seite 6 Empty Re: Götterblut - Kapitel 1: Ein (un)moralisches Angebot

Beitrag von Scáth Di Sep 04 2012, 18:47

Für Johanna war der Weg, den sie gerade hinter sich gebracht hatte, wohl der schwerste ihres ganzen Lebens gewesen. Mehrmals hatte sie nach hinten geschaut und war kurz davor wieder fortzulaufen, doch sie war den beiden Fremden letzten Endes mit ein wenig Wehmut gefolgt.
Die Nacht war frisch und Johanna war sehr dankbar dafür, dass sie Charles Mantel tragen durfte, denn dieser machte die Kälte ein wenig erträglicher. Der Fußmarsch machte ihr schwer zu schaffen, sie war es zwar gewohnt, sich viel zu bewegen, doch die halbe Nacht durch unbekannte Gassen zu wandern, verlangte etwas mehr Ausdauer. Es war also kein Wunder, dass sie sichtlich erleichtert war, als sie ihr Ziel erreicht hatten. Doch Johanna wurde gleich wieder anders zumute, als sie sah, wer die Tür öffnete.
'So viel fremde Menschen an einem einzigen Tag kennen lernen...Ich schätze, das ist ein neuer Rekord'
Man bemerkte wohl ihren leicht entsetzten Blick. Johanna sah beschämt zu Boden, doch nach den aufmunternden Worten von Charles musste selbst sie kurz lächeln. Ms. Bolt schien den Arzt, Dr.Tremaine, offensichtlich relativ gut zu kennen. Johanna wusste nicht, ob es sie erleichtern oder verunsichern sollte. Es war etwas verwirrend, dass Charles ihn nicht kannte. Vermutlich war Johannas Vermutung falsch gewesen, und Charles und Ms. Bolt hatten doch nicht wirklich viel miteinander zu tun.
Durch das Licht im Haus hatte Johanna nun die Chance, ihre neuen Gefährten ein wenig besser zu betrachten.
Ms. Bolt war eine recht hübsche, junge Frau. Johanna schätzte, dass sie in etwa in ihrem Alter sein musste, eventuell etwas älter, so sah es nämlich aus. Das konnte aber auch nur Täuschung sein, durch die Kleidung, die sie trug. Sie schien nett zu sein, auch wenn sie einen recht mitgenommenen Gesichtsausdruck hatte. Wer weiß, was sie in ihrem Leben schon alles hatte mitmachen müssen. Vermutlich war das von Johanna ein Traum dagegen. Ihr Blick wanderte herüber zu Dr. Tremaine. Auch er schien noch recht jung zu sein. Johanna musste sich eingestehen, dass seine Augen ihr etwas Angst einjagten. Die schwarzen Klamotten, passend zu den schwarzen Haaren, trugen ein wenig dazu bei. Trotz allem schien er recht freundlich zu sein, denn er erklärte sich sofort dazu bereit, die Wunde von Charles zu behandeln. Erst jetzt fiel Johanna so richtig auf, wie blutbesudelt dieser eigentlich war, mal abgesehen von dem vielen Dreck. Ihr Blick blieb an seinen braunen Augen hängen. Ihr blieb kurz die Luft weg. Sie kannte diese Augen. Sie hatte sie schon so oft gesehen, und gerade jagten sie ihr einen unglaublichen Schreck ein. Johanna ließ sich auf einem Stuhl nieder, der sich im Raum befand. Ihre Beine wollten sie nicht mehr tragen, und sie war wie erstarrt. Sie wusste nicht was sie tun sollte. Etwas sagen? Schweigen? Und wenn ja, wie lange? Ihr Kopf war plötzlich leer. Sie dachte an nichts mehr und starrte nur noch in die so vertrauten braunen Augen von Charles.
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Götterblut - Kapitel 1: Ein (un)moralisches Angebot - Seite 6 Empty Re: Götterblut - Kapitel 1: Ein (un)moralisches Angebot

Beitrag von Umbra Di Sep 04 2012, 18:47

„Nein danke, Doctor“, lehnte Charles dessen Angebot höflich ab. „Ich bin froh, dass ich jetzt noch einigermaßen klar denken kann, da möchte ich nichts nehmen, was mich zusätzlich benebelt. Ich werde die Schmerzen schon aushalten.“
Wobei er jetzt schon wusste, dass er sich würde zusammenreißen müssen, um sich nicht zu bewegen. Als Dr. Tremaine die Wunde gereinigt hatte, wäre er schon am liebsten bis unter die Decke gesprungen. Charles‘ Hände hielten sich bereits angespannt an den Kanten des Operationstisches fest und zumindest die Knöchel seiner rechten waren bestimmt weiß, weil seine Finger sich regelrecht dort festkrallten. Aus seinem Gesicht war wahrscheinlich auch schon alle Farbe gewichen.
Sich selbst zu verarzten, damit hatte Charles nicht das geringste Problem, er konnte es nur nicht leiden, wenn jemand anderes an seinen Wunden herumfummelte. Allein bei der Vorstellung davon, dass der bleichgesichtige Chirurg über ihm jeden Moment mit einer Nadel auf in einstechen und die auseinandergedrifteten Fetzen Haut auf seiner Stirn zusammenzurren würde, stieg in ihm leichte Panik auf.
Während Dr. Tremaine den vom Blut leuchtend rot gefärbten Lappen, mit dem er Charles‘ Gesicht sauber gewischt hatte, und auch weitere Reinigungsutensilien beiseitelegte, um sich nun auf das Vernähen der Wunde vorzubereiten, hob Charles kurz den Kopf an. Als er an seinem liegenden Körper hinunterblickte und eigentlich nur flüchtig in Richtung seiner Schuhe spähte, fiel ihm auf, dass seine Weste etwas hochgerutscht war und ein Stück des Griffs seines Revolvers preisgab, der vorne in seinem Hosenbund steckte.
Er hoffte, dem Doctor würde das nicht auffallen oder, wenn doch, egal sein. Charles war sich nicht sicher, wie der Arzt reagieren würde. Hatte dieser überhaupt das Gewehr bemerkt, dass er ebenfalls bei sich hatte? Draußen war es ziemlich dunkel gewesen und als Charles seine Sachen abgelegt hatte, bevor er etwas schwerfällig auf den ungemütlich kalten Operationstisch gestiegen war, war Dr. Tremaine gerade mit seinen chirurgischen Utensilien beschäftigt gewesen und hatte augenscheinlich nicht auf ihn geachtet.
„Melinda, meinen Sie, dass es schon ein passender Zeitpunkt dafür wäre, mir zu erzählen, was Sie vorhin erlebt haben?“, fragte Charles nach. Er wusste nicht, ob sie dem Arzt genug traute, dass sie über so ein Thema offen sprechen würde, wenn dieser anwesend war. Aber schließlich hatte sie diesem ja auch Charles‘ Namen genannt, sodass Charles hoffte, Miss Bolt würde ihn selbst so etwas von der unliebsamen Prozedur ablenken, die Dr. Tremaine an ihm durchführen würde.

-----

Mr. C. hatte, während Alan geredet hatte, keine Miene verzogen und auch nun war keine Regung in seinem Gesicht erkennbar, die irgendetwas über seine Gedanken aussagen mochten.
„Ihre Bedingungen klingen akzeptabel“, antwortete er, nachdem er seinen Gesprächspartner einen kurzen Moment mit seinen dunklen, braunen Augen gemustert hatte, „jedoch ist diese Summe, die Sie von uns für einen so kleinen Akt der Höflichkeit verlangen, wirklich anmaßend. Aber das soll kein Hindernis sein.“
Der Mann ließ seine Hand in seinen schwarzen Ledermantel gleiten und zog aus einer Innentasche eine einzelne Banknote über fünfzig Pfund hervor, die er vor Alans Augen glatt strich und sie diesem dann mit folgenden Worten überreichte: „Glauben Sie nicht, Sie hätten mich in der Hand, nur weil ich darauf eingehe, denn ich bin sicherlich nicht von Ihnen abhängig und habe weder Angst vor Ihnen, noch brauche ich mich vor der Polizei selbst zu fürchten.“
Nun lag die Andeutung eines kühlen Lächelns auf seinen Lippen.
„Wenn mein Wort gegen das Ihre steht, werden Sie sehr schlechte Karten haben, egal, welche Lüstlinge Sie auch erpressen könnten. Belassen wir es dabei, es sei Ihnen nur versichert, dass ich durchaus mit geladener Waffe auf Sie ziele“, griff er Alans Bild auf, „und auch abdrücken werde, sollten Sie mich durch aggressive Handlungen verstimmen.“
Dann stellte er sich vor.
„Mein vollständiger Name lautet Jeremiah Aidan Crowne. Grauenhaft, nicht wahr? Da bekomme ich Brechreiz, also bleiben wir bei Jack C., wenn Sie erlauben. Aber viel wichtiger ist, dass ich tatsächlich selbst der Hintermann bin, der einzige neben meiner Frau Angeline.“
Angestellte haben wir, ja“, gab diese zu, da sie nun erwähnt wurde. „Insofern liegen Sie richtig: Wir arbeiten nicht alleine. Der Grund, warum gerade wir mit Ihnen reden und warum wir auch sonst eher selten auf andere zurückgreifen, ist, dass wir uns lieber persönlich um unsere Geschäfte kümmern, anstatt diese irgendwelchen Handlangern zu überlassen.“
Sie bedachte Alan mit einem, wenn auch von einer gewissen Überheblichkeit geprägtem Lächeln.
„Um Mr. Norly zu finden, brauchten wir keine Hilfe. Wir hatten ihn bereits im Visier, bevor er nach London kam, und da er sich auch hier erst einmal nicht die Mühe machen musste, sich bedeckt zu halten, war es eine Leichtigkeit, seine weiteren Schritte zu beobachten – wenn auch der Aufwand, an seinen Fersen zu bleiben, dann mit seinen Versteckspielchen etwas höher wurde.“
„Sie dürfen nicht denken, dass wir ihn rund um die Uhr überwachen“, stellte Mr. C. daraufhin eilig klar. „Das machen wir auch bei Weitem nicht jeden Tag, denn wir haben noch andere Pflichten, aber wir können trotzdem meist recht genau sagen, wo er sich aufhält, oder zumindest, wo er in nächster Zeit auf jeden Fall auftauchen dürfte. Mr. Norly ist ziemlich clever, keine Frage, eigentlich ist es eine große Verschwendung, dass er nichts Sinnvolles mit seinem Verstand anzufangen weiß, aber er ist bei Weitem nicht so gerissen wie er selbst von sich denkt“, sagte Mr. C. und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wir mussten die Polizei schon mehrmals von seiner Spur ablenken, denn Hills Schnüffler hätten ihn schon längst erwischt, wenn wir das zugelassen hätten. Aus direkten Konfrontationen vermag er sich geschickt herauszumanövrieren, doch seine Selbstsicherheit macht ihn leichtsinnig und er lässt sich einfach zu oft auf der Straße blicken, um unauffällig zu bleiben.
Mr. Norly, müssen Sie wissen, ist ein ausgesprochener Exzentriker; das ist er schon immer gewesen“
, erzählte er, „auch wenn die vergangenen Jahre ihn tatsächlich noch sonderbarer gemacht haben. Jemand mit seiner Persönlichkeit findet nur wenig Freunde, aber einen ‚Irren‘ würde ich ihn nicht unbedingt nennen – denn trotz seines schwierigen Charakters und seiner Macken weiß er, was er tut. Aber was noch nicht ist, kann sicher werden.“
Nun lächelte Mr. C. das erste Mal in diesem Gespräch deutlich erkennbar und zeigte Alan dabei gerade, gepflegte Zähne.
„Allein, dass er Sie nun für einen privaten Rachefeldzug gegen unseren ehrenwerten Chief Commissioner engagiert hat, dürfte wohl zeigen, dass er bereits rasant auf den Abgrund zusteuert. Er findet partout keinen Ausweg aus seiner jetzigen Situation, hat die Erkenntnis im Nacken, dass er sein Leben verpfuscht hat und es inzwischen zu spät und er selbst zu alt ist, um sein dieses noch in den Griff zu bekommen, und treibt sich zusätzlich mit dem Feindbild Hill selbst in den Wahnsinn.
Das mit anzusehen ist“
, gestand er mit einem leisen Lachen, „zugegebenermaßen ziemlich amüsant, vor allem, da Mr. Norly mir selbst ein Ärgernis ist. In den vergangenen Jahren hat er mir nicht nur einen bedeutenden Geschäftsabschluss versaut. Allein dadurch hat er unser Interesse geweckt; und nun fragen wir uns einfach, was er wohl noch vorhat und wie weit er gehen wird. Auch seine Frechheiten mir und Angeline gegenüber lassen sich jetzt, in dieser Situation, wieder gutmachen – mit Ihrer Hilfe, wenn Sie möchten.
Kommen wir also zu dem Vorschlag, den wir Ihnen unterbreiten wollen, denn Sie scheinen Mr. Norly im Gegensatz zu den anderen mit vernünftiger Skepsis entgegenzutreten.
Arbeiten Sie nebenbei für uns, das würde sich finanziell enorm für Sie lohnen. Außerdem könnten wir bei der Polizei ein gutes Wort für Sie einlegen, sollte man Sie zusammen mit ihm erwischen“
, bot Mr. C. an und begann dann, konkret zu erläutern, was er von Alan wollte.
„Wie erwähnt, ist Mr. Norly sehr exzentrisch. Er ist ein Ordnungsfanatiker und merkt sich einerseits schnell lauter Details und Kleinigkeiten, die für andere eher unnütz erscheinen, hat aber andererseits in Bezug auf wichtigere Dinge oft ein sehr schlechtes Gedächtnis. Deswegen führt er ein Notizbuch, in dem er Daten, Gedanken und Ereignisse festhält, aber auch private Erinnerungsstücke wie Fotographien und Briefe sammelt.
Er hängt sehr an diesem Ding, denn es gibt ihm Sicherheit, obwohl er dessen Inhalt garantiert sowieso auswendig aufsagen könnte. Mr. Norly lässt sein kleines Büchlein nie aus den Augen und trägt es meist sogar nahe am Körper bei sich, was es für uns etwas schwierig macht, ungesehen an es heranzukommen. Wir müssten auf eine Gelegenheit hoffen, in der er und auch alle anderen abgelenkt sind, um uns auch nur nähern zu können; Sie hingegen könnten sich offen in Mr. Norlys Gegenwart aufhalten, ohne dass er oder jemand ihrer neuen Freunde misstrauisch wird, und in Ruhe einen passenden Moment abwarten, um sein Notizbuch an sich zu nehmen.
Ich will dieses Buch haben – und zwar ohne dass er Verdacht schöpft“
, stellte er klar. „Sorgen Sie deswegen dafür, dass der gute, alte Charlie nicht merkt, dass Sie es an sich genommen haben, sondern dass er denkt, er hätte es verloren oder verlegt. Wenn Sie das schaffen und mir das Notizbuch bringen, zahlen wir Ihnen zweihundert Pfund und geben Ihnen einen neuen Auftrag, wenn Sie möchten. Sie haben dann die freie Wahl, ob Sie weiterhin für uns arbeiten möchten oder nicht. Uns ist auch vollkommen egal, ob Sie Mr. Norlys Vorhaben unterstützen oder sogar sabotieren wollen. Sie müssten nur bei ihm bleiben“, schloss er seine Ausführungen, wieder mit einem Lächeln auf den Lippen, und löste seine verschränkten Arme wieder voneinander.
„Das nenne ich ein großzügiges Geschäft! Wie Angeline schon sagte: Die Gesellschaft von Scarface allein wird Ihnen nicht dienlich sein. Aber wir können sie für Sie lohnenswert machen. Was sagen Sie dazu?“
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Götterblut - Kapitel 1: Ein (un)moralisches Angebot - Seite 6 Empty Re: Götterblut - Kapitel 1: Ein (un)moralisches Angebot

Beitrag von Darnamur Di Sep 04 2012, 18:48

Randolph nahm finster zur Kenntnis, dass Mr. Norly selbst während der Operation offenbar mit seinen Begleiterinnen sprechen musste. Auch kam er nicht umhin, den Griff eines Revolvers zu bemerken, der aus dem Hosenbund des Mannes hervorragte. Bereits die scheußliche Narbe hatte seine Aufmerksamkeit erregt gehabt und einen fürchterlichen Verdacht in ihm aufkeimen lassen und die Feuerwaffe war ein weiteres Indiz, das seine düstere Ahnung verstärkte. Doch Dr.Tremaine schob dieses Thema erst einmal beiseite. Er würde sich noch heute Nacht um dieses Thema kümmern. Zunächst hatte die Versorgung der Wunde höchste Priorität. Mr. Norly schien sich wacker zu schlagen und schrie nicht herum, was das Vernähen der Wunde enorm erleichterte.
Schließlich war es erledigt. Die Wunde war verschlossen und der Doktor machte sich daran, sie mit einem Verband abzudecken. "Sie sind geheilt, Mr. Norly", erklärte er währenddessen. "Kommen Sie in zwei Wochen nochmals zu mir, damit ich die Naht entfernen kann. In der Zwischenzeit schonen Sie sich bitte ein wenig!"
Dr. Tremaine zog sich seinen blutverschmierten Kittel aus. Dann richtete er seine grauen Augen auf alle seine Gäste, insbesondere Ms. Stead und Mr. Norly. In der Frau erkannte er ein einfaches Dienstmädchen. Welche Rolle sie in diesem Schauspiel innehatte, war ihm nicht ganz klar. Aber sie schien Gefühle für Mr. Norly zu hegen. Die Art, wie sie ihm Blicke zuwarf, war eindeutig. Ein junges, naives Ding, das wahrscheinlich erst wenig von der harten Realität in den Londoner Elendsvierteln gesehen hatte.
Ebenfalls unklar war ihm, wie Melinda zu Mr. Norly stand. Als Randolph Mr. Norly musterte, fiel ihm ein weiteres Detail auf. Wie hatte er nur so blöd sein können, es nicht zu bemerken? Er wusste noch nicht, was es bedeutete, aber wenn er Glück hatte, würde er auch darüber bald Bescheid wissen. Sein Hirn arbeitete bereits fieberhaft an einem Plan.
"Es wäre mir sehr angenehm, wenn ihr heute Nacht hier bleiben würdet. Ich habe noch ein Gästezimmer mit zwei Betten für die Damen und die Couch für Sie, Mr. Norly!", sagte er mit falscher Höflichkeit. "Es hat keinen Sinn mehr, wenn ihr um diese Uhrzeit noch in eure Wohnungen zurückkehrt. Ich werde noch meine Utensilien verstauen. Also macht euch nicht die Mühe zu warten. So wie ich es verstanden habe, wollen Sie ohnehin noch etwas besprechen."
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Götterblut - Kapitel 1: Ein (un)moralisches Angebot - Seite 6 Empty Re: Götterblut - Kapitel 1: Ein (un)moralisches Angebot

Beitrag von Elli Di Sep 04 2012, 18:49

Als Melinda das letzte Mal hier gewesen war, hatte sie selbst auf dem Behandlungstisch gesessen und sich eine Wunde nähen lassen. Mit Schaudern erinnerte sie sich an die Ereignisse zuvor und ihre erste Begegnung mit dem Gesetz. Eine unerfreuliche Erfahrung, die sich in ihr Hirn eingebrannt hatte, und sie war froh, dass sie diesmal nicht als Patient hier war.
Melinda betrachte die Hände des Arztes, die so gekonnt die Wunde von Norly behandelten. Ihr entging nicht, dass Norly sich nicht sehr wohl fühlte und sich offensichtlich nur unter äußerster Anstrengung dazu zwingen konnte, ruhig zu halten. Eine Ablenkung schien also ganz gut. Fragte sich nur, ob die Ablenkung, die sie zu bieten hatte, eine gute war. "Die Situation war etwas unübersichtlich. Hyde, Lived und ich gingen in ein Café und haben etwas getrunken. Wir haben uns ein wenig über die ungewöhnliche Situation, in der wir uns befanden beziehungsweise befinden, gesprochen. Als zwei Polizisten das Café betraten, wurde Hyde sehr unruhig und wollte, dass wir schnell gehen. Lived machte den Vorschlag, hintereinander zu gehen, sodass wir keine Aufmerksamkeit mit unserem Aufbruch erregten. Ich bin also hinausgegangen und habe dort in einer Seitenstraße gewartet. Hyde kam auch irgendwann aus dem Gebäude heraus und plötzlich... nun, es überschlug sich alles. Ein Schuss und Hyde ging zu Boden. Dann war dort ein Mann, der erneut auf ihn schoss. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also bin ich geflohen, als die Polizisten vor den Hyde geflohen war aus dem Café kamen. Welch Ironie, dass er vor Ihnen weglief... in sein Verderben. Ich glaube, Hyde hat die Schüsse nicht überlebt. Leider kam ich nicht dazu, mich davon überzeugen zu können. Ich lief davon." Einen Augenblick überlegte sie, von den Bomben zu erzählen. Dann behielt sie es lieber für sich. Zum Einen wusste Melinda nicht, ob sie vielleicht noch einmal auf einen Überraschungsmoment angewiesen sein würde, noch ob es nicht vielleicht die Bomben gewesen waren, die Hyde in Stücke gerissen hatten. Vielleicht hatte er die Schüsse überlebt und sie hatte sein Leben beendet, weil sie panisch geworden war. Aber sie war sich nun mal selbst die Nächste. Daran würde sich so schnell auch nichts ändern. "Was mit Lived ist, kann ich nicht sagen. Er verließ das Café nicht, solange ich die Tür im Auge behielt."
Sie dachte einen kurzen Augenblick nach, bevor sie weitersprach.
"... und dann eilte ich davon, ohne wirklich zu sehen, wo ich hinging. So kam es auch, dass wir uns wieder begegnet sind. Allerdings muss ich sagen, es würde mich interessieren, wie Sie es geschafft haben, in der nicht allzu langen Abwesenheit ein Haus in Brand zu stecken und eine Geisel zu nehmen, die Ihnen breitwillig folgt. Sie scheinen ebenso ein Talent für unliebsame Momenten zu haben wie ich." Sie deutete auf das Johanna die still und in sich gekehrt war. "Ihre Sicht der Dinge würde mich auch interessieren, Ms. Stead. Wie kommt man dazu, in Nachthemd und Hausschuhen einem fremden Mann zu folgen?"

Als der Doktor ihnen einen Schlafplatz anbot, schenkte sie ihm ein warmes Lächeln, mit dessen Erwiderung sie nicht rechnete. Vor einiger Zeit hätte er sicher zurückgelächelt, doch diese Zeiten schienen vorbei.
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Götterblut - Kapitel 1: Ein (un)moralisches Angebot - Seite 6 Empty Re: Götterblut - Kapitel 1: Ein (un)moralisches Angebot

Beitrag von Druzil Di Sep 04 2012, 18:49

Überrascht ergriff Alan die Geldnote. So einfach hatte er sich das nicht vorgestellt.
"Ich sehe, Sie sind offenbar in der Lage, einem anständigen Mann auf angemessene Weise entgegen zu kommen. Hier in der Nähe wird sich doch sicherlich eine Spelunke finden lassen, die noch ein gutes Tröpfchen zu veräußern hat."
Alan sah sich um. Etwas zu lange als nötig gewesen, mit zu viel Desinteresse für seine Gesprächspartner. Dann wendete er sich aber wieder Mr. C. zu.
"Ich schenke Ihren Worten Glauben, Mr. C., dass Sie die Polizei aktuell noch nicht zu fürchten haben. Sollten Sie aber darauf aus sein, mich in eine Falle zu locken, versichere ich Ihnen, dass ich Sie nicht mit polizeilichen Samthandschuhen anfassen werde. Aber nun gut, lassen wir das."
Alan steckte das Geld in die Tasche seiner Jacke.
"Verstehe ich Sie richtig? Sie unterstützen Norly, verwischen gar seine Spuren vor der Polizei?"
Alan zeigte einen irritierten Gesichtsausdruck.
"Und gleichzeitig wähnen Sie ihn dem Abgrund nahe? Was soll das Ganze? Sind Sie Aufwiegler? Ist Ihr Ziel die Verbreitung von Chaos und Unfrieden in London?"
Alan wurde in diesem Moment bewusst, dass er gründlich über all das nachdenken musste, was ihm in den letzten Stunden, es kam ihm eher wie Tage vor, widerfahren war. Aber eines konnte er mit Gewissheit festhalten: Zweigleisig zu fahren war nicht die schlechteste Idee. Vielleicht konnte er gar von dieser unseligen und verräterischen Kooperation profitieren. Auf eine ganz spezielle Art und Weise, die ihm dienlich sein mochte.
Alan lehnte sich an die Wand der Gasse und setzte eine grüblerische Miene auf.
"Ich werde Ihnen dieses Notizbuch besorgen, so es denn in meiner Macht steht und sich die Möglichkeit bietet. Aber ich brauche eine Möglichkeit, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen. Und kommen Sie mir nicht mit "Wir werden Sie kontaktieren.". Wo kann ich Sie antreffen? Mein zweites Anliegen wäre von... privaterem Interesse. Sie scheinen sich in gewissen Kreisen zu bewegen und Möglichkeiten zu haben. Ich bestehe nicht auf eine Zahlung meiner Gefallen mit Geld. Ja, man kann mich auch einen Freund des guten, alten Tauschhandels nennen."
Alans Stimme wurde leiser, aber umso eindringlicher.
"Behalten Sie Ihre Pfundnoten und kaufen Sie Ihrem Engel etwas Hübsches. Was ich will, ist eine Bombe."
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Götterblut - Kapitel 1: Ein (un)moralisches Angebot - Seite 6 Empty Re: Götterblut - Kapitel 1: Ein (un)moralisches Angebot

Beitrag von Umbra Di Sep 04 2012, 18:50

Charles biss die Zähne zusammen, als Dr. Tremaine mit der eigentlichen Arbeit an seiner Wunde begann. Während der Prozedur verzog er zwar sein Gesicht, doch versuchte er dabei, seine Stirn nicht allzu sehr zu runzeln, um den Chirurgen nicht zu behindern. Aber es drang kein Schmerzenslaut über seine Lippen. Auch wollte Charles nicht an die Decke des Operationsraumes starren oder Randolph Tremaine sehen, der mit seiner Nadel wohl oder übel ab und zu in sein Sichtfeld gelangte, also schloss er einfach die Augen, versuchte, ruhig zu atmen, und war dankbar dafür, Melindas sanfte Stimme zu hören – auch wenn es ihm alles andere als gefiel, was genau Miss Bolt sagte.
Seine Befürchtung war wahr geworden: Es musste ein gezieltes Attentat gewesen sein, dem Melinda Bolt, John Hyde un Theodore Lived zum Opfer geworden waren. Eine andere Möglichkeit kam gar nicht in Frage. Und der Anschlag war wegen ihm, Charles, geschehen, dessen war er sich sicher. Er musste zu unvorsichtig gewesen sein und hatte deswegen erst das Unglück verursacht. Es war… eigentlich kein Wunder.
Ich hätte meine Zweifel nicht beiseiteschieben dürfen, war Charles sich bewusst. Mit der Entführung hatte er einen folgeschweren Fehler begangen. Er hätte es schon irgendwie ohne Hilfe geschafft, so wie er schon immer irgendwie allein zurechtgekommen war, doch die Aussicht auf Erfolg, die mit mehreren Personen an seiner Seite nicht mehr so verschwommen wirkte, war stärker als seine Bedenken gewesen.
Im Moment fühlte er sich einfach unglaublich dämlich.
Charles wusste nicht, was wie er auf Melindas Bericht reagieren sollte. Abgesehen davon, dass Schuldgefühle an ihm nagten und die Informationen nur Fragen aufwarfen, konnte er verstehen, dass sie das Weite gesucht hatte. Er hätte zwar nicht so reagiert, aber er konnte es wirklich nachvollziehen. Das zweite Mal in so kurzer Zeit war Charles etwas sprachlos, sein Mund fühlte sich auch ziemlich trocken an, also murmelte er nur „Es tut mir leid.“, aber mehr zu sich selbst als an Melinda gerichtet.

Dr. Tremaine schien die Wunde genäht zu haben und deutete Charles, sich aufzusetzen, um diesem einen Verband anlegen zu könnte. Es schwindelte Charles ein wenig, als er aus der Liegeposition hochkam, doch das unangenehme Gefühl und die Sterne vor seinen Augen verschwanden rasch.
Miss Bolt schloss an ihre Schilderung der Ereignisse ebenfalls Fragen an, die sie hatte.
„Das scheint nicht nur so“, antwortete Charles Melinda in Bezug auf ihre Vermutung, dass er ein Talent für unliebsame Momente zu haben scheine, und gab dabei ein Geräusch von sich, das wie eine Mischung aus einem missbilligendem Schnauben und einem bitteren Lachen anmutete. „Als man mir das in meiner Jugend das erste Mal sagte, wollte ich es nicht wahrhaben, aber inzwischen bin ich mir dessen nur zu deutlich bewusst.“
Er machte eine Pause, da erneut ein stechender Schmerz seinen Schädel durchfuhr, während der Doktor mit dem Verbandsmaterial herumhantierte.
„Mr. Stirling hat das Feuer gelegt, nicht ich“, stellte er in ruhigem Ton klar. „Er ist im Haus geblieben, als Sie gegangen sind. Eigentlich wollte ich nur noch meine Wunde versorgen, meine Sachen an mich nehmen und ebenfalls aufbrechen, aber er hielt es für witzig, mich damit zu ärgern.“
Dass er die Gelegenheit genutzt hatte, Alan im Gegenzug auch eins auszuwischen, verschwieg Charles aber. Der Gesichtsausdruck des Brandstifters, als er den Badezimmerschlüssel (von dem Alan aber gedacht hatte, es handele sich um den Haustürschlüssel) in die Flammen geschleudert hatte, war einfach unbezahlbar gewesen. Wobei der Weg über die Dächer nicht zu Charles‘ besten Ideen gezählt hatte, wie sich kurz später herausstellte.
„Unsere Wege trennten sich und meine Flucht führte ungeplanterweise durch Miss Steads Schlafzimmer. Da man mich dort fast mit einem Jagdgewehr erlegt hätte, obwohl ich schlicht und einfach die Treppe benutzen wollte, sah ich mich gezwungen, die junge Dame mit hinunter auf die Straße zu nehmen“, erklärte er mit einem entschuldigenden Lächeln und warf dabei noch einmal einen kurzen Blick in Johannas Richtung. „Wie ich es geschafft habe, dass Miss Stead mir nun bereitwillig folgt, ist mir aber, den Umständen entsprechend, ebenfalls ein Rätsel“, gab Charles seufzend zu. „Das kann nur sie selbst beantworten. Aber vielleicht“, scherzte er müde und er merkte, dass ihn die Erschöpfung langsam endgültig einzuholen schien, „habe ich meinen Charme über die Jahre ja doch noch nicht komplett verloren.“

Nun, da Dr. Tremaine offenbar sein Werk beendet hatte, sprach er zu Charles. Dieser bezweifelte jedoch, dass er sich an die Anweisung des Arztes würde halten können, denn er durfte jetzt keine allzu große Rücksicht auf seine Verletzung nehmen und abwarten.
„Ich werde mir so viel Ruhe gönnen wie ich Zeit erübrigen kann“, versicherte Charles jedoch.
Er bemerkte, dass der Doctor zwischen seinen Besuchern hin und her sah und diese zu mustern schien, doch dass der Mann ihnen dann anbot, für den Rest der Nacht zu bleiben, überraschte ihn. Damit hätte er nicht gerechnet.
Etwas unsicher, wie er auf die freundliche Einladung reagieren sollte. Charles nahm Melindas Lächeln als stille Zustimmung wahr, aber so verlockend es auch klingen mochte, jetzt nicht wieder nach draußen in die kühle Dunkelheit zu müssen, fühlte er sich dazu verpflichtet. Seine Anwesenheit hier brachte dem Chirurgen, der sich offensichtlich im Unklaren darüber befand, dass Melinda einen vielgesuchten Mann zu ihm gebracht hatte, nur Schwierigkeiten ein. Außerdem musste Charles sich davon überzeugen, dass es Alan und Mr. Lived, aber auch allen anderen gut ging, mit denen er in den letzten Monaten in Kontakt gestanden hatte – und die ihm, wenn teilweise auch widerwillig, geholfen hatten.
Und dann war da noch John Hyde.
Charles war sich sehr unsicher, warum der Attentäter ausgerechnet John und nicht schon Melinda, die ja als Erste das Café verlassen hatte, wie sie gerade noch berichtet hatte, erschossen hatte – nein, niedergeschossen hatte. Vielleicht lebte der Wissenschaftler noch. Das wollte Charles auch in Erfahrung bringen, ebenso die Identität des Schützen.
Doch dazu müsste er seine Begleiterinnen zurücklassen, am besten hier bei Dr. Tremaine. Im Haus des Arztes war genügend Platz und die Inneneinrichtung sah bei Weitem nicht so schäbig und spärlich aus wie die in der winzigen Unterkunft, die Charles als nächstes (eigentlich nur für sich selbst) im Auge gehabt hatte.
Aber was war, wenn man sie auf dem Weg hierher und beim Betreten des Hauses beobachtet hatte? Was war, wenn den Damen ebenfalls Gefahr drohte, erschossen zu werden, wenn Charles sie alleine ließ?
Damit stand Charles' Entscheidung fest: Er würde ebenfalls hierbleiben.
„Danke für Ihre Gastfreundschaft, Dr. Tremaine. Ja, in der Tat, wir haben sogar noch viel zu besprechen“, stimmte er zu und sah dabei Johanna an, da Melindas Frage, warum sie ihm gefolgt war, noch immer im Raum stand. „Aber dürfte ich vorschlagen, dass wir unser Gespräch verschieben? Ich möchte nicht eigennützig klingen, aber der Morgen bricht schon in wenigen Stunden an und ich sollte dringend etwas Schlaf finden.“
… und will endlich aus dieser Metzgerhöhle heraus, fügte Charles in Gedanken hinzu, stand vom Operationstisch auf, um dann seine Kleidung gerade zu rücken und zu streichen.

-----

Mr. C. erwiderte weder auf Alans nach Alkohol und dessen Umsehen nach einer Kneipe, noch auf die erneute Gewaltandrohung etwas. Offenbar war für ihn zu dem Thema alles gesagt, so zeigte er noch nicht einmal eine Geste des Verstehens und Akzeptierens von Alans Warnung davor, diesem mit dem Angebot eine Falle stellen zu wollen.
Auch seine Angetraute meldete sich nicht zu Wort, sondern stand schweigend neben ihrem Begleiter, ihre Händen in ihren Manteltaschen vergraben, und schaute Alan nur mit einem engelsgleichen Lächeln an, das ihrem Spitznamen gerecht wurde.
Mr. C. selbst blieb ebenfalls ruhig, sah Alan mit festem Blick in die Augen und zupfte – scheinbar etwas gelangweilt – an den Fingerspitzen seines linken Handschuhs herum, bis sein Gesprächspartner Nachfragen bezüglich Mr. Norly und der eigenen Rolle im Geschehen gestellt hatte.
„Nicht primär“, antwortete Mr. C. schlicht, lediglich auf die letzte Frage, ob das Ziel ihres Handels die Verbreitung von Chaos und Unfrieden in London sei, und ignorierte die übrigen.

Nickend nahm der schwarzgekleidete Mann zur Kenntnis, dass Alan wissen wollte, wo er seine Geschäftspartner antreffen könne und sagte daraufhin gelassen: „Wir werden Sie kontaktieren, wenn es uns beliebt, so ist das nicht, aber selbstverständlich können Sie auch uns aufsuchen, wenn Ihnen danach ist. Angeline ist oft Zuhause, aber ich befürchte, ich selbst bin einen Großteil des Tages unterwegs. Doch wenn Sie an der Tür direkt gegenüber von den Überresten von Chief Commissioner Hills Haus läuten“, lächelte Mr. C., „wird man Ihnen sicher sagen können, wo ich mich gerade aufhalte. Curzon Street 17 in Mayfair, Westminster, um genau zu sein.“
Als Alan dann zu seinem zweiten Anliegen kam und ausgerechnet eine Bombe haben wollte, schlich sich wieder einmal ein Lächeln auf Mr. C.s anscheinend zumeist ernst dreinblickendes Gesicht.
„Eine Bombe?“, fragte er nach, machte sich aber im Gegensatz zu Alan nicht die Mühe, leiser zu sprechen. „Die können Sie haben, aber ich fürchte, das müssen Sie präzisieren. Was soll es denn sein? Etwas Handliches oder Unhandliches; mit welcher Sprengkraft und für welches Material; zum Hinstellen, Anheften oder Werfen; mit Stift, Zündschnur, Druck- oder Zeitauslöser? Oder eine Sonderanfertigung? Eine Gas-, Rauch- oder Splitterbombe; eine Brief- oder Paketbombe vielleicht; oder ein Sprengsatz, der zündet, wenn man eine bestimmte Tür öffnet? Zögern Sie nicht, kreativ zu sein.“
Dann zog er sein Feuerzeug aus einer seiner Manteltaschen und zündete sich paffend wieder eine Zigarette an.
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Götterblut - Kapitel 1: Ein (un)moralisches Angebot - Seite 6 Empty Re: Götterblut - Kapitel 1: Ein (un)moralisches Angebot

Beitrag von Darnamur Di Sep 04 2012, 18:51

Sein Plan schien zu funktionieren. Er führte Melinda und Ms. Stead in das Gästezimmer und anschließend brachte er Mr. Norly ins Wohnzimmer zu der üppig ausgestatteten Couch. "Ich selbst werde nur noch den Operationssaal aufräumen. Also denken Sie sich nichts, sollten Sie ein Geräusch hören, Mr. Norly." Randolph schloss die Tür.
Und tatsächlich räumte er das Operationszimmer - denn das war es eigentlich - auf, denn der Doktor konnte Unordnung nicht leiden. Dann ging er leise zur Haustür hinüber und öffnete. In der finsteren Nacht herrschte ein leichter, aber beständiger Nieselregen. Randolph zog sich seinen Mantel über und seine Augen erblickten das Gewehr, das in der Kommode zurückgelassen worden war.
Ein Gewehr, eine Pistole, eine Narbe im Gesicht, eine Kopfwunde, eine Schießerei, du weißt wer dieser Mann ist, Randolph! Er steckte sich seinen Haustürschlüssel ein und schloss so lautlos wie er es vermochte die Tür. Der Doktor hatte Prinzipien. Und sein erstes Prinzip war, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Er wanderte durch das von Gaslampen erleuchtete Soho und zum ersten Mal seit langer Zeit wanderte er durch London und achtete auf die Gebäude, auf die Straße zu seinen Füßen und die Laternen, die sich an ihr aufreihten. Er dachte an das Gespräch von Melinda und Mr. Norly.
Welcher Komplott ist hier am Laufen? Der Doktor hatte vor, es herauszufinden. Er atmete die Nachtluft ein und ging weiter Richtung Soho Square. In seinen Kopf hatte sich bereits ein Plan ausgeformt, was er mit Mr. Norly tun würde.
Als Erstes muss ich in den Besitz der Pistole kommen, wenn er noch schläft. Und dann würden sie beide ein sicherlich sehr interessantes Gespräch führen.
Und dann sah er, was er gesucht hatte. Ein vergilbter Fetzten Papier, von dem aus ihm die Fratze von Mr. Norly entgegenstarrte. Die Fratze von Scarface, dem Dreizehnfachmörder. Mit einem Ruck riss Randolph das Plakat ab. Er machte sich auf den Heimweg.

Plakat:
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Beitrag von Elli Di Sep 04 2012, 18:51

Randolph hatte Johanna und Melinda zu dem Gästezimmer geführt. Wie gewohnt, ohne groß Worte zu verlieren. Es juckte ihr in den Fingern, die Tür so leise wie möglich zu öffnen und sich ein bisschen umzusehen. Früher hatte der Doktor immer einen gut gefüllten Medizinschrank gehabt und einige Opiatflaschen sein Eigen genannt. Nicht auszudenken, wenn eine Flasche Laudanum unberührt im Regal stehen würde. Die Nacht war aufregend gewesen und obwohl Melinda einen unsteten Lebenswandel hegte, würde ihr das Hinwegdriften durch Drogen das Letzte, was von der Nacht noch da war, sicherlich angenehmer gestalten. Nicht, dass sie den Doktor bestehlen wollte, sie hätte sich wie auch früher schon einige Male, wenn er ihr geholfen hatte, natürlich erkenntlich gezeigt. Das hatte sie mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg geschafft. Andererseits meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Sie hatte einfach einen von Scotland Yard gesuchten Mann mit hierhergebracht und Gefahr ins Haus Einzug walten lassen. Doch wenn sie an Norly dachte, hatte sie keine Angst. Er war eher charismatisch als bedrohlich. Als ihr dieser Gedanke durch den Kopf schoss, zog sie spöttisch eine Augenbraue hoch. „Nun hör aber auf Melinda!“ schalt sie sich selbst.
Sie sah sich in dem finsteren Raum so gut es ging um, abgesehen von einer kleinen flackernden Kerze herrschte Dunkelheit. Doch konnte Melinda die Handschrift von Randolph aus dem Zimmer lesen. Die Bücher, die hier standen, waren akribisch geordnet. Sie lächelte wehmütig. Hätte er Pflanzen gehabt, er hätte sie sicherlich nach Größe sortiert. Doch trotz der Ordnung, die hier herrschte, war alles von einer dicken Patina Staub überzogen. Sie fragte sich wann er das letzte Mal hier gewesen war. Nur bei einigen Büchern sah man, dass sie bewegt worden waren, der Staub aus den Regalbrettern war hier verwischt, oder an anderen Stellen dünner als der Rest. Mit Mühe schaffte sie es, einige Buchstaben zu entziffern, Lesen war noch nie ihre Stärke gewesen. Auf den meisten Büchern konnte sie das Wort Medizin ausfindig machen. Schließlich war er Arzt, also war die Bücherauswahl kein großes Wunder.
Viel mehr gab es in dem Zimmerchen nicht zu entdecken, doch für Melindas Verhältnisse war dieses Haus der pure Luxus. Schließlich trat sie an das Fenster heran und fasste leicht an den mottenzerfressenen Vorhang, durch das schmutzige Fenster sah sie auf die Straße hinaus. Nichts bewegte sich, bis plötzlich eine einsame Gestalt durch die Straße ging. Sie erkannte die fast schlaksige Figur und den Bewegungsablauf, der Doktor ging dort unten über die Straße. Zu einem hilfebedürftigen Opfer würde er wohl kaum unterwegs sein, Randolphs Patienten mussten schon zu ihm kommen. So war es zumindest früher immer gewesen. Vielleicht hatte er das geändert, er hatte sich ja auch verändert. Doch dann wurde ihr klar, dass das die perfekte Gelegenheit war, sich umzusehen. Nur mal an einer Flasche riechen, vielleicht würde sie ja auch eine Flasche Alkohol finden. Dazu würde sie natürlich auch nicht ‚Nein‘ sagen.
Sie zog sich ihre Schuhe aus und stellte sie behutsam neben das Bett und schlich auf nackten Füßen zur Zimmertür. Immerhin waren noch andere Menschen im Haus. Johanna lag in dem zweiten Bett mit dem Rücken zum Raum gewandt und schien zu schlafen. Von der Mutter des Doktors ging, sofern man den Erzählungen glauben konnte, keine Gefahr aus entdeckt zu werden. Sarah, eine befreundete Hure, die vor nicht allzu langer Zeit die Hilfe eines Arztes benötigt hatte, hatte davon erzählt, dass die Mutter dem Alkohol so zugeneigt war wie ein Hafenarbeiter. Aber dennoch waren noch Norly und Stead mit ihm Haus. Sie wollte gerade die Tür des Gästezimmers öffnen, in das der Doktor Johanna und sie bugsiert hatte, als sie hinter sich ein Geräusch vernahm. „Sei dir selbst die Nächste… sei dir selbst die Nächste…“
Doch dann blieb sie stehen und versuchte im Dunkeln auszumachen, ob das Mädchen doch nicht schlief, sondern wach war. „Ms. Stead? Sind Sie noch wach?“, sie warte kurz ab und sprach dann erneut „Johanna?“
Sicherlich hatte Norly damit Recht gehabt, dass alle etwas schlafen sollte, so hatte sie seine Andeutung jedenfalls aufgefasst, aber da er weder ihr Vater noch ihr Ehemann war, musste sie ja nicht auf ihn hören. Sie war sehr darauf gespannt, was das junge Ding zu erzählen hatte. Sollte sie antworten, würde sie sich gerne mit ihr unterhalten und so der Versuchung entgehen, den Doktor noch mehr zu schröpfen. Wenn nicht, würde sie das Haus ein wenig erkunden.
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Beitrag von Scáth Di Sep 04 2012, 18:52

Ohne zu zögern trat Johanna in das Gästezimmer, welches der Arzt ihr und Melinda zu Verfügung stellte, und legte sich in eines der freien Betten. Erst jetzt wurde ihr bewusst, in welche Situation, in welche Gefahr sie sich gebracht hatte, indem sie einen fremden Mann, einen gesuchten Verbrecher, begleitete.
Johanna kauerte sich auf dem Bett zusammen und merkte, wie eine Träne sich an ihrer Wange hinunterschlich.
'Oh nein. Jetzt fang bloß nicht an zu heulen. Du bist selbst Schuld an dem ganzen Schlamassel.'
Mit dem Ärmel wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht, und der raue, nach Blut und Alkohol duftende Stoff verriet ihr, dass sie noch immer die Jacke von Charles trug. Vom Geruch etwas angeekelt, setzte sie sich hin, zog die Jacke aus und ließ sie unachtsam auf den Boden fallen. Erst jetzt, da ihre Augen sich an die Dunkelheit des Raumes gewöhnt hatten, fiel ihr auf, dass Melindas Bett leer war. Sie stand an der Tür und war wohl gerade dabei, das Zimmer zu verlassen. Johanna war das ganz recht, denn ihr war diese Frau noch nicht ganz geheuer. Sie legte sich wieder hin und starrte an die Decke des Raumes, als sie plötzlich die Stimme von Melinda wahrnahm.
"Ja, ich bin noch wach...", antwortete sie, und setzte sich erneut auf.
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Beitrag von Elli Di Sep 04 2012, 18:53

Als Melinda die Stimme hinter sich hörte, fluchte sie innerlich leise auf. Sie hätte wirklich lieber etwas Alkoholisches in ihren Körper gepumpt als einen Plausch zu halten, aber sie blieb stehen. Leise drehte sie sich um und überlegte fieberhaft, welche Aussage sie treffen könnte, um zu erklären warum sie an der Tür stand, doch der zündende Gedanke kam ihr leider nicht. Stattdessen schlenderte sie einfach zurück zu ihrem Bett und ließ sich sanft darauf nieder. Eine leichte Staubwolke war das Resultat und sie musste einige Male Niesen.
"Hmmm. Vorgestellt haben wir uns ja nun schon gegenseitig, Ms. Stead. Allerdings haben Sie noch nicht auf meine Frage geantwortet. Wenn ich Sie mir so ansehe, sehen Sie nicht aus wie ein umtriebige Frau, die jedem unbekannten Kerl hinterherläuft. Sondern eher wie eine brave Hausfrau und Mutter, deren tägliche größte Aufgabe es ist, auf die Heimkunft ihres treusorgenden Ehemannes zu warten. Sehen Sie mich an. Wie ich mein täglich Brot verdiene, dürften Sie sicherlich schon aus meinen Klamotten geschlossen habe. Dass eine wie ICH, einem Menschen wie Norly hinterherläuft... Was habe ich schon zu verlieren? Sie sehen noch recht jung aus, wenn ich mir den Kommentar erlauben darf. Also, nun zu der Frage, die mich tatsächlich heute Nacht nicht schlafen lassen wird: Warum sind Sie hier?"
Melinda konnte das Gesicht der jungen Frau nicht erkennen und musste so darauf warten, ob Johanna ihr überhaupt antworten würde. Wenn man es genau nahm, ging es Melinda nicht einen feuchten Kehricht an, weshalb sie sich mit ihr das Zimmer teilen musste. Aber die unbändige Neugier brannte ihr unter den Nägeln. Ob es wie bei ihr war? Hatte Johanna die gleichen Beweggründe wie sie?
Während der kurzen Zeit, in der sie auf eine Erwiderung wartete, schweiften ihre Gedanken wieder zu Scarface. Aber nicht, weil sie Angst hatte, mit einem vermeintlichen Mörder unter einem Dach zu schlafen, denn ob er wirklich noch niemandem auf dem Gewissen hatte, konnte schließlich nur er selbst wissen, nein, sie hatte schließlich selbst einem Mann das Leben gekostet, sondern weil sie erkannte, dass sie den Mann alles andere als bedrohlich fand, und sie sich fragte, womit er gerade seine Zeit verbrachte. Doch schnell begrub sie die Gedanken und schenkte Johanna ihre volle Aufmerksamkeit.
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Beitrag von Scáth Di Sep 04 2012, 18:54

Melindas Frage hatte sich wie Feuer in ihr Gedächtnis gebrannt. Warum war sie eigentlich hier? Was hatte das hier alles für einen Sinn? Sie wusste es nicht. Weder, warum sie hier war, noch, was das hier alles für einen Sinn machte. Die einzige Erklärung, die sie hatte, war, dass sie ihn gerne kennen lernen wollte. Den Mann, der sie all die Jahre alleine gelassen hatte, der ihr in die Augen sehen konnte, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, wer sie war, auch, wenn sie die gleichen hatte. Und doch wusste Johanna nicht, ob es das Richtige war, Melinda alles anzuvertrauen. Sie kannte diese Frau nicht. Aber war das nicht die beste Vorraussetzung? Wem sollte sie es schon sagen? Charles? Er würde es sowieso eines Tages erfahren. Deshalb war sie doch auch mitgekommen. Um sich ihm vorzustellen. Nicht als fremde Frau, sondern als die, die sie wirklich war.
"Na ja... am Anfang musste ich Mr. Norly etwas unfreiwillig begleiten. Aber das hat er ja schon erzählt" , begann Johanna zu erzählen, ohne wirklich zu wissen, wohin sie das führen würde.
"Kurz bevor Sie aufgetaucht sind, hatten wir ein kleines Gespräch. Eigentlich war nur er es, der geredet hat. Er stellte sich unter Anderem vor. Ich war... beeindruckt... von dem, was ich zu hören bekam. Nicht zuletzt hatte ich etwas Mitleid. Aber ich glaube, das tut nichts zur Sache, denn das war nicht der wirkliche Grund, warum ich Ihnen freiwillig folgte..." Johanna verstummte einige Sekunden und starrte Melinda an. Es war allerdings zu dunkel, um ihr Gesicht genau zu erkennen.
"Ich würde meinen Vater gerne kennenlernen. Da dachte ich, es würde sich anbieten, ihn einfach zu begleiten."
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Beitrag von Druzil Di Sep 04 2012, 18:55

"Sprechen Sie doch leiser, man!", keuchte Alan, als Mr. C. scheinbar völlig sorglos seine eindrucksvolle Aufzählung begann.
Nachdem er geendet hatte, schwieg Alan eine ganze Weile, aber ihm war deutlich anzusehen, wie sehr seine Gedanken rasten. Es begann mit völliger Verdutztheit, ging über in Erstaunen, Ungläubigkeit, einen kurzen Moment des Erschreckens, um schliesslich in etwas zu münden, das am ehesten an einen kleinen Jungen erinnerte, dem sein Vater das erste selbstgeschnitzte Holzschwert überreichte.
"So etwas gibt es alles?", entfuhr es Alan.
"Das ist... Meine Güte, wer zum Teufel sind Sie?! Das ist unglaublich. Einfach unglaublich. Also, ich weiss nicht, was sich am ehesten anbieten würde." Alan grübelte einen Moment vor sich hin. Das war einfach eine überfordernde Versuchung! Ein tieferer Gedanke daran, mit was für Leuten er sich hier einließ und dass diese deutlich gefährlicher als der Spinner Norly sein könnten, entstand bei ihm nicht. Stattdessen faszinierte ihn die Vorstellung im Besitz all dieser zerstörerischer Waffen zu sein. Was man damit nur alles anrichten konnte?!
"Ich... ich denke, etwas, das man aktiviert und dann aber eine Weile braucht, um zu detonieren, wäre gut. Vielleicht so dreißig Sekunden. Und handlich, aber es sollte schon eine Wand einreißen können. Geht so etwas?"
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Beitrag von Umbra Di Sep 04 2012, 18:55

Charles legte sein Gepäck und sein Gewehr im Flur in der Nähe des Hauseingangs ab, als Dr. Randolph Tremaine ihn zusammen mit den beiden jungen Damen durch das dunkle und stille Haus führte. Allein das, was er am Leib trug, mitsamt seinem Revolver, behielt er bei sich.
Ihr Weg war nur wenige Schritte weit und der Chirurg zündete für Melinda und Johanna eine Kerze im Gästezimmer an, bevor er Charles ins Wohnzimmer zu einer sehr gemütlich aussehenden Couch führte und auch für seinen männlichen Übernachtungsgast Licht machte, indem er ebenfalls eine Kerze auf dem Couchtisch entfachte.
Charles dankte dem Arzt mit einem freundlichen Lächeln, als dieser den Raum verließ und die Tür hinter sich schloss. Dann galt seine Aufmerksamkeit seiner neuen Umgebung.

Dr. Tremaines Wohnzimmer war von der Einrichtung her zwar deutlich als solches zu erkennen, doch sah es im spärlichen Schein der einzelnen Kerze wenig wohnlich aus, wie Charles befand. Er selbst sorgte zwar dort, wo er lebte, auch für penible Ordnung, denn wenn er erst einmal anfangen würde, das zu vernachlässigen, würde das Durcheinander bald schon überhand nehmen – soweit kannte er sich –, jedoch war er ebenfalls sehr kleinlich, was Schmutz anbelangte. In den Räumen in Hills Haus, die er wirklich bewohnt hatte, hätte man bestimmt kein Körnchen Staub oder eine andere Unsauberkeit finden können. Hier sah es hingegen fast so aus, als hätte sich seit Langem niemand mehr um den Hausputz gekümmert.
Charles beschloss, dass ihn das nichts anging – und außerdem würde er ja nur wenige Stunden hier bleiben.
Viel wichtiger als der Staub waren die Fluchtmöglichkeiten, die Charles auch mit eiligen Schritten und kurzen Blicken prüfte. Die Tür, durch die er in den Wohnraum hineingekommen war, führte zum Flur, das wusste er; eine andere scheinbar ins Esszimmer. Hinter dunklen, schweren Gardinen verbargen sich zwei Fenster, durch die man in eine schlecht beleuchtete Gasse gelangen würde. Sorgfältig und lückenlos zog er die Vorhänge nach dieser Erkenntnis wieder zurecht, damit man von draußen nicht das Geringste vom Geschehen im Wohnzimmer sehen konnte. Nicht, dass irgendwelche nächtlichen Passanten zufällig oder nicht zufällig einen Blick auf ihn erhaschen konnten, wenn sie im Vorbeigehen durch eines der Fenster blickten. Gerade, wenn das Licht noch brannte, würde man ihn von draußen vielleicht allzu leicht erkennen können.
Es steckten keine Schlüssel in den Türen, was Charles eigentlich lieb gewesen wäre, denn hinter geschlossenen Türen, die andere aussperrten, würde er sich deutlich sicherer fühlen – auch wenn er nicht wirklich von Gefahr durch seine Begleiterinnen ausging.
Bei Dr. Tremaine war das schon eine andere Sache. Melinda schien dem Mann zu vertrauen. Doch Charles traute Randolph Tremaine, wenn auch nur wegen des Umstands, dass es sich bei ihm um einen Chirurgen handelte, nicht komplett über den Weg.
Stuhllehnen unter die Klinken zu klemmen, wäre als Gast in diesem Haus wohl zu unhöflich.
Notfalls hatte er ja noch seinen Revolver, den er auch beim Schlafen bei sich behalten würde, so wie er es stets zu tun pflegte.

Aber bevor er an Ruhe denken konnte, würde er es sich erst einmal bequemer machen müssen.
Charles trat an die Couch heran und schlüpfte aus seinen Schuhen, die er bedächtig beiseite stellte. Dann zog seine graue Weste aus und löste seine Krawatte, um dann beides ordentlich über die Armlehne am baldigen Fußende der Couch zu legen. Bereits im Sitzen, streifte er sich Hosenträger einfach von seinen Schultern, sodass diese ihn nicht weiter einengen würden; dann öffnete er die obersten zwei Knöpfe seines Hemdes sowie die Knöpfe an seinen Handgelenken.
Charles schob ein Kissen ans Kopfende seines Nachtlagers, griff nach der zusammengefalteten Wolldecke, die neben ihm lag, und machte sich auf der Couch lang, wobei er darauf achtete, seine Kopfwunde nicht zu belasten. Der Verband störte ihn etwas, aber daran würde er sich wohl gewöhnen müssen. Gähnend wickelte er sich in die Decke und pustete die Kerze aus.

Er hörte tatsächlich einige, sehr gedämpfte Geräusche, die offensichtlich daher rührten, dass der Dr. Tremaine, wie erwähnt, aufräumte: Stumpfes Geklimper und Geklacker von metallischen Instrumenten, die dabei aneinander stießen, Schubladen und Schranktüren, die geöffnet und wieder geschlossen wurden – eine Klangkulisse, die eigentlich nicht sonderlich aufmunternd war.
Doch das leise Tick-Tack von Charles‘ Taschenuhr, die sich am Fußende der Couch in seiner Westentasche befand, das vertraute Geratter von winzigen Zahnrädern, die in seiner Prothese seinen Herzschlag begleiteten und die ineinandergriffen, als er seine Decke umfasste und sich bis unter das Kinn zog, und nicht zuletzt auch der Revolver, der nach wie vor in seinem Hosenbund steckte, schafften in dieser ungewohnten Umgebung ein Stück beruhigende Behaglichkeit.
Trotzdem fragte Charles sich, ob er würde schlafen können, denn nicht nur sein Kopf brummte und schmerzte, sondern es fühlte sich auch fast so an, als wäre aufgrund des Sturzes vom Dach sein ganzer Körper von blauen Flecken übersät – was aber nur an seinem rechten Unterarm und an seinen Knien der Fall sein durfte. Nachgesehen hatte er nicht und in diesem Moment war ihm das eigentlich auch herzlich gleich.
Möglicherweise hätte ich das Schmerzmittel doch annehmen sollen, überlegte Charles, aber er konnte und wollte sich jetzt nicht mehr aufraffen, um den Doctor um etwas Laudanum zu bitten.
Es muss auch so gehen, beschloss er, während er seinen Blick noch einmal durch die Dunkelheit streifen ließ, in der er sich befand.
Vielleicht würde er wieder einmal von einer rauen Hanfschlinge träumen, die ihm die Luft abschnürte und deren dicker, schwerer Knoten ihm knackend das Genick brach, wenn er den Boden unter den Füßen verlor; oder von einem See aus Blut und toten, aufgeritzten Gesichtern, in dem ihn fahle, zornige Hände unentrinnbar in die Tiefe zogen; oder – da der Aufenthalt im Operationszimmer des Dr. Tremaine ihn wieder hatte erinnern lassen – von unsäglichem Schmerz, dunklen Zimmern und dem kaltem Grinsen von Skalpellen und Knochensägen.
In letzter Zeit waren solche Albträume immer häufiger geworden und hatten Charles sowohl Kraft als auch Nerven gekostet. Früher hatte er gern geträumt, nun war er einfach nur dankbar dafür, wenn er nicht jedes Mal, nachdem er die Augen geschlossen hatte, schweißgebadet wieder aufschreckte und notfalls etwas Scotch trinken musste, um wieder schläfrig zu werden.
Aber vielleicht würde seine Ruhe dieses Mal wirklich erholsam sein. Die Ereignisse des vergangenen Tages waren schließlich nicht alle unerfreulich gewesen, sodass sein Unterbewusstsein auch Gutes zu verarbeiten hatte.
Dabei dachte Charles daran, dass seine „Gäste“ sich deutlich kooperativer verhalten hatten als er erwartet hätte; an Johanna Stead, aus der er nicht schlau wurde, weil sie scheinbar nur aus Neugier so bereitwillig ihre Familie zurückgelassen hatte, um einem fremden, vermeintlichen Serienmörder zu folgen; aber auch an Melinda. Miss Bolt hatte ihm eine kleine Falle gestellt, indem sie ihn zu diesem Haus gebracht hatte – und das fand er schon etwas erheiternd –, aber vor allem hatte es ihn gefreut beziehungsweise freute es ihn immer noch, dass sie sich um ihn und sein Wohlergehen sorgte. Es war ein gutes Gefühl, zu wissen, dass sich überhaupt jemand um ihn scherte, ging doch eigentlich jeder davon aus, dass er selbst ein skrupelloses, schlitzendes Monstrum ohne Anstand war, das sich am blutigen Tod seiner Opfer ergötzte.

Doch trotz dieser letzten, etwas aufwühlenden Gedanken, die ihm durch den Kopf schossen, und entgegen seiner Erwartung, aufgrund seiner Schmerzen nicht einschlafen zu können, war seine Erschöpfung schließlich die treibende Kraft, die ihn beinahe sofort in einen gewohnt tiefen Schlummer fallen ließ, nachdem er die Augen geschlossen hatte.

-----

Mr. C. ging auf Alans erschrockene Forderung ein und sprach tatsächlich leiser, auch wenn er die Sorge darüber, dass ihr Gespräch vielleicht belauscht werden konnte und dass dieses bestimmt unangenehme Konsequenzen mit sich tragen würde, offenbar wirklich nicht zu teilen schien.
Mit einem tiefen Zug saugte er sich Zigarettenqualm in die Lungen, während er auf Alans Antwort wartete, und musste davon husten. Angel warf ihrem Mann kurz einen sorgsamen Blick zu, doch dieser fing sich schnell wieder. Mr. C. ließ sich von diesem kurzen Anfall nicht beirren, räusperte sich kurz und rauchte dann weiter. Genüsslich atmete den für so manchen stinkenden Rauch ein und blies ihn danach in die Nachtluft.
Als Alan schließlich wieder Worte fand und fast schon voller Begeisterung fragte, ob es die Möglichkeiten, die Mr. C. ihm genannt habe, alle gebe, nickte dieser mit schweigsamer Bestätigung, und als Alan die Frage nach der Identität der mysteriösen Fremden nachsetzte, war es Angel, die antwortete: „Einfache Leute mit guten Kontakten“, erklärte sie beflissen und lächelte ein wissendes Lächeln.
Mr. C. widmete sich Alan, nachdem dieser seinen Bombenwunsch beschrieben hatte.
„Ja, das ist kein Problem – solange Sie damit nicht so dicke Wände wie die Außenmauern des Towers einreißen wollen“, fügte er ruhig hinzu, „denn dazu bedarf es etwas Größeres. Ich merke schon, dass Sie sich nicht sonderlich damit auskennen. Darf ich Ihnen also etwas vorschlagen? Ich habe mehrere Modelle zur Verfügung, die Ihren Vorstellungen entsprechen könnten. Bringen Sie mir einfach das Buch und ich werde Ihnen dann bei der Auswahl helfen, indem ich Sie berate.“
Er machte eine kurze Pause, in der er noch einmal an seiner Zigarette paffte.
„Damit wäre die Sache erst einmal geklärt“, entschied er dann. „Sie wollten doch etwas trinken gehen, oder nicht? Nach den Strapazen der heutigen Nacht kann ich das gut verstehen. Unter anderen Umständen würden wir Sie gerne noch auf einen Schluck einladen, aber ich denke, wir haben Sie schon genug belästigt.“
„Außerdem sollten wir uns ebenfalls wieder auf dem Heimweg machen“, warf seine Begleiterin erinnernd ein, „bevor man uns vielleicht vermisst. Die ganze Nachbarschaft dürfte in heller Aufregung sein und das würde ich mir gerne noch ansehen, bevor man das Feuer wieder gelöscht hat.“
Mr. C. warf ihr kurz einen nicht deutbaren Seitenblick zu und fixierte dann wieder Alan.
„Auf Wiedersehen, Mr. Stirling“, sagte er nickend und fasste sich dabei an die Krempe von seinem Bowler.
Er wollte sich schon abwenden, aber dann fiel ihm offenbar noch etwas ein.
„Ich hoffe, es ist Ihnen klar, dass Sie unsere Unterhaltung für sich behalten sollten. Mr. Norly dürfte nicht begeistert davon sein, wenn er erfährt, dass Sie ihn hintergehen – aber was er mit Ihnen anstellen würde ist mit absoluter Sicherheit harmlos im Gegensatz zu dem, was mir einfallen könnte, wenn er von Ihnen erfährt, dass wir existieren. Gute Nacht.“
Mit dieser Drohung drehte er Alan den Rücken zu und ging einfach weg. Angel warf Alan noch einmal ein Lächeln zu, eilte dann ihrem Mann hinterher und hakte sich bei ihm ein. Seite an Seite verschwanden sie wieder im Schatten der Gasse, aus dem sie aufgetaucht waren. Das einzige, was von ihnen noch zu sehen war, war das glühende Ende von Mr. C.s Zigarette, als er diese achtlos wegwarf.
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Beitrag von Druzil Di Sep 04 2012, 18:57

Alan nickte zustimmend, als Mr. C. das Beratungsangebot aussprach. In der Tat hatte er keine Ahnung von Sprengsätzen, deren Arten und aus was genau sie bestanden. Er war auf fachkundige Hilfe angewiesen, auch wenn ihm noch nicht ganz klar war, was er mit der Bombe anfangen sollte. Aber interessante Ziele würde es genug geben, erkannte Alan. Prachtstrassen, Villen, Luxusläden - all jene Orte, an denen der Reichtum der Wenigen sich protzig zur Schau stellte. Und dann war da ja noch die Polizei, überlegte Alan, und diese ganze selbstverliebte Adelsbrut, mit ihren Landsitzen und monarchistischen Gebaren als wären sie von Gott persönlich in ihren beschissenen Stand berufen worden.
Alan konnte es kaum erwarten, etwas Feuerwerk in die Finger zu bekommen.
Er lächte Angel kurz zu, bevor sich diese bei ihrem Partner einhakte, Mr. C. bohrte er aber giftige Blicke in den Rücken. Behalten Sie unsere Unterhaltung für sich, für wie blöd hielt ihn dieser Schnösel eigentlich? Ohne seine Bomben war der Typ doch ein Hemd im Wind. Fast bereute Alan es, ihm keine verpasst zu haben.
Das Paar war mittlerweile aus Alans Sichtfeld verschwunden und von der Dunkelheit verschluckt worden und so stand er kurz unentschlossen am Eingang der Gasse und überlegte. Konnte er jetzt einfach nach Hause gehen? Eine Kneipe aufsuchen? Alan schüttelte den Kopf. Er musste mehr erfahren, bevor er sich ein wenig Ruhe und Rausch gönnen konnte.
Vorsichtig schlich er in die Gasse.
Wollen wir doch mal gucken, wohin es die beiden Idioten wirklich verschlägt.
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Beitrag von Darnamur Di Sep 04 2012, 18:57

So leise wie es ihm möglich war, schloss Randolph die Tür zu seiner Wohnung auf, diese war bereits von seinem Vater als häusliche Praxis benutzt worden und er selbst hatte diese Eigenart fortgeführt. Edmure Tremaine war ebenfalls Chirurg gewesen. Er war noch mit dem "alten" Chirurgenhandwerk aufgewachsen. Damals gab es nicht wenige Leute, die den Tod einem chirurgischen Eingriff vorzogen. Das hatte sich mittlerweile zum Glück geändert. Und auch in naher Zukunft schon würden sich immer bessere Möglichkeiten der Behandlung ergeben. Derzeit befand sich die Medizin in einem Zeitalter des Fortschritts. Sein Vater hatte dies noch miterlebt. Allerdings nicht so wie sein Sohn. Nach seinem Tod hatte Randolph das Geschäft übernommen. Düstere Gedanken stiegen erneut in Randolph auf, als er an die Vergangenheit dachte. Wie jedesmal. Er versuchte sich ihren Fängen zu entreißen und die düsteren Errinerungen von sich abzuschütteln. Doch das würde niemals geschehen. Niemals. Die Vergangenheit - die Erinnerung an seinen Vater, seine gescheiterten Träume und seine Ängste - verfolgte ihn bis in seine Träume.
Randolph besann sich wieder seiner Gegenwart und schloss die Tür sanft. Seine Augen wanderten zu Mr. Norlys/Scarfaces Gewehr, das noch immer in der Kommode lag. Sollte sein Patient bemerken, dass er das Wohnzimmer betrat, wäre es die sichere Alternative, die Feuerwaffe mitzunehmen. Randolph entschied sich allerdings dagegen: Das Gewehr würde seine Operation nur beeinträchtigen und wenn er tatsächlich aufflog, würde der Gast höchstwahrscheinlich nicht die Bedrohung erkennen, die von ihm ausging. Mit einer Ausrede könnte er sich schnell aus der unbequemen Situation manövrieren. Doch Randolph hoffte, dass es erst gar nicht dazu kommen würde. Er hängte den Mantel auf und tastete sich langsam in den nachtschwarzen Flur vor. Aus dem Gästezimmer ertönten gedämpften Stimmen von Melinda und Ms. Stead. Randolph fluchte leise. Er hatte gehofft, dass mittlerweile alle seiner Gäste eingeschlafen wären. Er schlurfte weiter und erreichte die Tür zum Wohnzimmer. Zumindest dort war nichts zu hören. Aber es wäre auch seltsam gewesen, wenn Scarface mitten in der Nacht Selbstgespräche führen würde. Wobei - anhand dessen was der Doktor bislang von seinem Patienten gesehen hatte, wäre es durchaus möglich gewesen, dass dieser ununterbrochen reden würde.
Randolph versuchte, sich zu beruhigen, und drückte dann langsam die Klinke herunter. In der Dunkelheit konnte er nur relativ wenig erkennen. Mr. Norly - ein massiger, finsterer Schemen auf dem Sofa - schien aber tief zu schlafen. Er schloss die Tür. Scarface zeigte keine Reaktion. Nun kam der schwierigste Teil: Schritt für Schritt tastete er sich zu Mr. Norly vor, dessen Brustkorb sich weiterhin regelmäßig hob und senkte. Randolphs Finger tasteten sich zu Scarfaces Hosenbund vor. Mr. Norly wurde unruhig und schien zu erwachen. Verzweifelt und nicht mehr auf Heimlichkeit achtend, tastete er weiter, fand den Griff des Revolvers und zog ihn heraus. Dann eilte er von dem erwachenden Mr. Norly weg und ließ sich auf dem Sessel nieder, der der Couch gegenüberlag. Dort entzündete er eine Öllampe am daneben stehenden Nachttisch. Randolph erstarrte, als er sah, dass Scarface ihn bereits aus offenen Augen anstarrte, die wohl genauso übermüdet waren wie seine eigenen.
"Erneut guten Morgen, Mr. Norly! Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Schlaf! Ich denke, dass es an der Zeit ist, dass Sie mir etwas erklären! Und am besten beeilen Sie sich damit!" Mit einer verächtlichen Geste schmiss er das zerrissene Plakat in seiner Rechten zu Boden. Das Gesicht von Mr. Norly wurde ein zweites Mal ins Licht der Öllampe getaucht.
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Beitrag von Elli Di Sep 04 2012, 18:58

"Ich würde meinen Vater gerne kennenlernen.“ was Johanna gerade gesagt hatte, schien in Melindas Ohren tausendfach wieder zu klingen. Vater? Ihre Kehle fühlte sich plötzlich staubtrocken an, fast hilflos sah sie sich nach einer Karaffe Wasser um. Doch nichts dergleichen befand sich in dem spärlich eingerichteten Gästezimmer. Vater. Sie hatte tatsächlich Vater gesagt. Norly hatte tatsächlich eine Tochter! Warum sollte er denn auch keine Kinder haben! mahnte sie sich selbst. Auch verurteilte Mörder hatten Kindern, warum nicht auch er? Warum war sie so überrascht und gleichzeitig fast wütend? Vermutlich weil ich selbst einfach gerne eine Familie gehabt hätte. sinnierte sie. Gedankenverloren tippte sie sich mit dem Nagel des rechten Zeigefingers gegen die Schneidezähne. Wäre sie doch bloß besser Opium suchen gegangen. Andererseits…die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf. Konnte sie diese Info für sich nutzen? Auf irgendeine Weise? Bedauernd dachte sie daran, dass sie Norly nett fand und ihn eigentlich nicht erpressen oder ähnliches wollte. Wie hätte sie ihn auch erpressen sollen. Ob er es wusste? Hatte er sie deshalb mit gehen lassen? So wie es aussah waren Hyde und Lived raus aus der Truppe und ob Alan jemals wieder auftauchte war auch fraglich. Vielleicht hatte er auch nur ein neues Teammitglied gesucht und das naive Ding war Norly gerade recht gekommen. Wieso denkst du so über sie? Naiv…naiv… äffte sie sich in Gedanken selbst nach. Schließlich war sie keinen Deut besser.
Plötzlich fiel ihr auf, dass sie keine Reaktion gezeigt hatte und räusperte sich kurz. “Mir war nicht bewusst, dass Mr Norly Kinder hat. Bei Ihrem Namen Ms Stead, wäre ich auf diese Verbindung auch niemals gekommen. Sagen Sie weiß…“ weiter kam Melinda mit ihrer Frage ob Norly, von seiner, für sie unbekannten, Vaterschaft wusste nicht, den sie hörte Geräusche im Untergeschoss und verstummte aufgrund dieser. Eilige Schritte und dann die Stimme des Doktors. Bevor Johanna etwas sagen oder erwidern konnte fasste sich Melinda schnell. “Pst! Da unten geht was vor sich. Was meinen Sie, sollen wir Mäuschen spielen?“ flüsterte sie und schlich sich barfuß zur Tür.
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Beitrag von Umbra Di Sep 04 2012, 18:59

Tatsächlich merkte Alan schon bald, dass Angels und Mr. C.s Weg wirklich nicht zurück zu Hills Haus und der Adresse führte, die sie ihm genannt hatten. Es war nicht schwer herauszufinden, dass sie nicht zurück in die exklusiven Straßen Mayfairs wollten, denn nachdem sie einige Abbiegungen durch dunkle Nebengassen genommen hatten, gelangten sie wieder ans Ufer der Themse, an der sie ein Stück entlangwanderten und dann schließlich sogar eine Brücke überquerten, um auf die Südseite des Flusses zu gelangen.
An diesem Punkt wurde es etwas kritisch, denn weit und breit bot nichts auf der Straße außer ein paar Laternenmasten, die aber deutlich dünner als Alan waren, Sichtschutz, falls das merkwürdige Paar zurückblicken würde. Und mit fast neunhundert Fuß, die die Breite der Themse an dieser Stelle betrug, galt es, besonders vorsichtig Abstand zu halten und nicht aufzufallen.
Doch Mr. C. und seine Frau sahen sich nicht um, nicht ein einziges Mal. Sie eilten zwar nicht durch die Nacht, aber ein Schlendern konnte man ihr Tempo auch nicht gerade nennen. Angel schmiegte sich die ganze Zeit über an den Arm ihres „Jack“, der kaum größer war als sie, und die hellblonden, langen Haare, die ihr wellig über die Schultern fielen, bildeten einen starken Kontrast zu ihrer dunklen Kleidung und erst recht zu dem Schwarz, in das sich Mr. C. von oben bis unten gehüllt hatte.
Die beiden warfen dunkle Schatten, die jedes Mal lang waren, dann kurz und wieder lang wurden, wenn sie an einer der flackernden Gaslaternen vorbeigingen, die die Straßen säumten.
Die Wege selbst wurden scheinbar mit jedem Schritt, mit denen sie Westminster, den nobelsten Stadtbezirk im Zentrum Londons, hinter sich ließen, unebener. Wohnhäuser, Restaurants und Läden wichen Lagerhäusern, Hütten und Werkhallen. Besonders hier am Südufer der Themse, das nach wie vor eher der Industrie als der Schaffung von Wohnraum diente, war dieser Umstand nichts ungewöhnliches, aber doch war die Gegend, in die es Angeline und Jack C. – und damit auch Alan – verschlug, alles andere als das, was man angenehm nennen konnte.
Die Straßen waren wie leergefegt, was für Soho oder das East End selbst um diese fortgeschrittene Nacht-, wenn nicht sogar baldige Morgenstunde, äußerst ungewöhnlich gewesen wäre. Auf ihrem gesamten Weg hierher waren sie keiner Menschenseele begegnet, nicht einmal irgendwelchen Trinkern auf dem Heimweg, obdachlosen Landstreichern, die sich ziellos herumtrieben, oder streifegehenden Polizisten – und das sollte sich auch jetzt nicht mehr ändern.
Es hätte bestimmt gespenstische Stille geherrscht, wären da nicht die dumpfen Geräusche von Maschinen gewesen, von schlagende Kolben, ratternden Zahnrädern und zischenden Dampfkesseln, die auch in der Dunkelheit ohne viel menschliche Aufsicht betriebsam ihrer öligen und rußerzeugenden Arbeit nachgehen konnten.
Genau auf eine dieser Fabrikhallen, aus denen dieser Lärm beinahe schon unheilverkündend nach draußen drang, steuerte das Ehepaar zu.
Mr. C. löste sich aus dem Griff seiner Frau und trat an ein kaum erkennbares Loch im hohen Gitterzaun zu, der das Gelände um das hochragende, ziegelrote Gebäude umgab, und hob das lockere, schon leicht rostige Drahtgeflecht an, damit Angel hindurchsteigen konnte, ohne sich zu verheddern. Dann schlüpfte auch er durch die Lücke im Gitter und gemeinsam gingen sie mit bestimmten Schritten auf eine schwere Eisentür am Rande der Halle zu. Kurz entfleuchte der Krach, den die Maschinen im Inneren verursachten, ungehindert in die Nacht, als Angel, dicht gefolgt von Mr. C., das Gebäude betrat.
Ächzend und träge schlug die Tür hinter ihnen ins Schloss zurück.

-----

Etwas störte Charles‘ Schlaf. War es ein kaum spürbarer Luftzug, ein leises Geräusch oder gar eine Berührung? Er vermochte es nicht zu sagen, nur sorgte diese vermeintliche Störung dafür, dass er in einen klareren Bewusstseinszustand überging. Eigentlich war er viel zu müde, um sich um sich darüber Sorgen zu machen. Wie lange lag er nun hier? Vielleicht waren es erst einige Sekunden oder Minuten, vielleicht aber auch schon Stunden. Er wusste es nicht. Das einzige, was er wusste, war, dass er weiterschlafen wollte, und er wäre sicher auch sofort wieder weggedämmert, wäre da nicht ein Geräusch sehr nah neben ihm gewesen, das seinen Puls rapide beschleunigte und ihn dazu brachte, seine Augen zu öffnen: Ein Ratschen. Jemand hatte ein Streichholz angezündet.
Tatsächlich leuchtete nicht weit von ihm entfernt eine kleine Flamme, die mit ihrem Schein das ihm nur flüchtig bekannte, blasse Gesicht des Hausbesitzers erleuchtete und sich dann sehr schlagartig größer wurde, als der Doktor sie an den Docht einer Öllampe hielt.
Geblendet von der plötzlichen Menge an Licht hob Charles schützend eine Hand vor sein Gesicht, bis seine Augen sich einigermaßen daran gewöhnt hatten. Er war etwas irritiert. Noch schlaftrunken schob sich Charles in eine aufrecht sitzende Position und spürte die Kälte des Dielenbodens an seinen in Socken steckenden Füßen hinaufkriechen.
Was soll das?, fragte er sich, wieso man ihn so weckte, doch die äußerst unerfreuliche Antwort darauf gab Dr. Tremaine ihm, ohne dass er diese Frage laut aussprechen musste.
Charles Augen verengten sich verärgert bei den sarkastischen, fordernden Worten des Chirurgen, sein Blick blieb nur kurz an dem gelblichen Fetzen Papier hängen, den dieser ihm vor die Füße schmiss.
Er wusste, um was es sich handelte, bevor er sein Gesicht darauf sah: Das Fahndungsplakat, mit dem man die Bewohner Londons auf ihn aufmerksam machen wollte – sie dazu bringen wollte, ihn zu fassen, damit man ihn für Verbrechen aufhängen konnte, die er nicht begangen hatte. Er kannte diese geballte Ansammlung von Lüge und Unverschämtheit Wort für Wort auswendig. Nicht nur einmal hatte Plakate wie dieses angestarrt, wenn er eins auf der Straße entdeckt hatte. Mal hatte er darüber gelacht, mal hatte er innerlich irgendwie gehofft, sie würden durch seinen auflodernden Hass in Flammen aufgehen.

Vielleicht, unter anderen Umständen, hätte Charles sich dem Doktor gegenüber verteidigt und versucht, sich zu rechtfertigen, doch in diesem Moment kochte einfach Wut in ihm hoch.
Charles versteifte sich. Er war niemandem, nicht einmal seinem bleichgesichtigen, ihm eigentlich fremden Gastgeber, Antwort schuldig. Und er würde sie diesem erst recht nicht geben, wenn der Arzt es auf diese Weise von ihm verlangte. Mit seiner Ton- und Wortwahl, verbunden mit diesem herablassenden Gehabe, hatte Dr. Tremaine bei Charles einen Funken gezündet, der wahren Zorn zu entfachen vermochte.
Das war ein Fehler, Freundchen.
„Ich wüsste nicht, was es da zu erklären gibt“, antwortete Charles äußerst kühl und hatte bereits seinen eigenen Plan, wie er mit Dr. Tremaine umspringen würde. „Eigentlich sollte alles klar sein. Ich sehe ein Plakat, auf dem mein Name steht und der, den die Presse mir gegeben hat. Dabei ein Bild von mir, das ich selbst skizziert habe und das sich irgendwelche Beamte erdreistet haben, aus meinem Haus zu stehlen, das sie amüsanterweise gleich mitsamt all meinem restlichen Hab und Gut beschlagnahmten, das sie in ihre gierigen Finger bekommen haben.“
Seine rechte Hand wanderte dabei langsam zu seinem Hosenbund.
„Dreizehn aufgeschlitzte Opfer werden erwähnt und eine äußerst beachtliche Geldsumme, die die Person bekommt, die mich ausliefert. Haben Sie wirklich alles gelesen? Da steht noch der interessante Hinweis, mir nicht unvorbereitet zu nahe zu kommen!“, rief er die letzten Worte aus und griff nun bestimmt nach dem Griff seines Revolvers – aber dort, wo er diesen vermutete, war er nicht.
Sein Gegenüber hatte seine Waffe!
Charles sprang regelrecht von der Couch auf, als er das erkannte. Seine Decke rutschte auf den Boden, aber stand nur aufrecht auf der Stelle und starrte Dr. Tremaine, wie er sich überheblich in seinem Sessel räkelte, sichtbar perplex an.
Hatte der Doktor das alles geplant? Hatte er ihn in sein Haus eingeladen, nur um ihn des Nachts zu überfallen und überrumpeln zu können? Es sah fast so aus!... Auch wenn das Plakat in Charles' Augen etwas nass war. Auch in Dr. Tremaines dunklen, kurzen Haaren erkannte er Wassertropfen. War dieser etwa gerade draußen gewesen, um den Wisch zu holen und um ihn damit konfrontieren zu können?
Was für ein gerissener Bursche!, dachte Charles sarkastisch und ließ dabei unabsichtlich ein Geräusch aus seiner Kehle erklingen, das wie ein Knurren anmuten mochte. Er erkannte, dass die Ahnung einer Berührung kurz vor seinem Aufwachen doch keine Sinnestäuschung gewesen war – was ihn umso mehr reizte.
Es war Verrat, schlicht und einfach unehrlicher Verrat, den der Arzt sich hier leistete. Charles hatte ihn bezüglich seiner Identität nicht angelogen. Er hatte zwar nicht erwähnt, dass er Scarface war, als der Chirurg bei „Charles Norly“ nicht hellhörig geworden war, aber das hatte er lediglich verschwiegen, um diesen nicht unnötig zu beunruhigen oder zu reizen. Immerhin war Dr. Tremaine im Begriff gewesen, an seiner Wunde herumzufummeln! Außerdem war Charles aufrichtig freundlich gewesen – und so dankte man es ihm!
„Verstehen Sie das etwa unter Gastfreundschaft?!“, zischte Charles beinahe, wurde aber nicht unbedingt leiser. „Sie sorgen dafür, dass ich bleibe, nur um mich dann zu bestehlen und mich zu bedrohen? Sagen Sie, als Mann der Medizin und als Messerkünstler obendrein: Wie denken Sie über das Werk des Schlächters von London? Sehen Sie es als das abartige Treiben, das es ist, oder gefällt es Ihnen sogar? Das blutige Handwerk liegt Ihnen, nicht wahr?“, brach aus ihm nun dieselbe Verachtung hervor, die Dr. Tremaine ihm entgegenbrachte.
Eigentlich behandelte Charles jeden mit Respekt, so denn er oder sie ihn auch mit Respekt behandelte. Da der Doktor dies nicht für nötig hielt, legte auch Charles in diesem Moment keinen Wert auf sein Verhalten.
„Was haben Sie jetzt vor, Doctor?“, spuckte er förmlich aus. „Los, erschießen Sie mich doch!“, forderte er dann provokant. „Sind Ms. Bolt und Ms. Stead die Nächsten?“
Charles wusste nicht, ob er sich bei dieser Person mit seinen Worten zu weit aus dem Fenster lehnte, aber es war in diesem Moment nicht die Vernunft, die aus ihm sprach. Er war wirklich wütend auf diesen Mann. Andererseits war es nicht unbedingt seine Art, so laut zu werden.
Charles hoffte einfach, dass die beiden Damen ihn gehört hatten und ihm vielleicht zur Hilfe eilen würden. Er wollte nur ungern, dass die Situation unschön endete. Weder für den Doktor oder, was im Moment wahrscheinlicher war, für ihn selbst.
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Beitrag von Darnamur Di Sep 04 2012, 18:59

Bedauernd starrte Randolph Tremaine auf die Gestalt seines Patienten. Er hatte Mr. Norly eine Chance gegeben - wegen seinem höflichen Verhalten und seiner Beziehung zu Ms. Bolt. Und seiner eigenen Vergangenheit wegen. Doch Scarface schien genau das zu sein, was Randolph erwartet hatte - ein skrupelloser Serienmörder. Ihm war nicht entgangen, wie der gute Scarred Charlie versucht hatte, ihn mittels seiner Pistole zu überwältigen, nachdem er den Doktor erst vollgequatscht hatte. Und sein "Gesprächspartner" schien ihn nicht einmal davon überzeugen zu wollen, dass er unschuldig sei.
Randolph ließ den Dreizehnfachmörder weiterreden. Charles lief ihm direkt ins offene Messer. Nachdem er begriffen hatte, dass er wehrlos war, änderte er seine Taktik und begann, ihm haltlose Vorwürfe und Beleidigungen vorzuwerfen. Schliesslich befand Randolph, dass es genug war, als Mr.Norly - der vorher noch den netten Gentleman gespielt hatte - ihn fragte, ob er nicht auch Melinda und die andere Frau in seiner Begleitung zu erschiessen wolle. Der Mann widerte Randolph mittlerweile nur noch an.
"Schweigen Sie, Mr. Norly! Sie sind nicht in der Lage, irgendetwas von mir zu fordern. Selbst ihren Tod nicht, Sie arroganter Mistkerl. Wie war es, als Sie diese Menschen aufgeschlitzt haben? Hat es Ihnen Freude bereitet, Sie aufzuschlitzen? Haben Sie den Geschmack ihres Blutes genossen? Hat es Sie erregt, ihre Leichen zu verunstalten?!"
Randolph erhob sich. Sein Gesicht hatte sich nun ebenfalls vor Zorn gerötet.
"Sie werfen mir vor, Sie schlecht behandelt zu haben! Sie waren es, der mitten in der Nacht ungewollt zu mir kam. Und dabei ahnen Sie noch nicht einmal, dass das unweigerlich ihre Begleiterinnen und auch mich selbst in Gefahr bringt. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Ihnen Scotland Yard gefolgt ist. Und ich - der nichts von Ihnen wusste, wäre wohl als Mitverschwörer des meistgesuchten Mannes von ganz London exekutiert worden.
Sie werfen mir vor, den Beruf des Chirurgen gewählt zu haben. In diesem Beruf rette ich das Leben von Menschen.
Sie werfen mir vor, dass ich Sie mit einem Revolver bedrohe. Dazu habe ich jeden Grund. Und jetzt werde ich Sie höchstpersönlich ausliefern, weil Sie so verdammt uneinsichtig sind. Ich weiss nicht, in welcher Beziehung Melinda und Ms. Stead zu Ihnen stehen. Zweifelsohne sind auch Sie von Ihren höflichen Worten geblendet worden. Auch ich habe Zweifel gehabt, ob sie wirklich der Massenmörder sind, als der Sie dargestellt werden! Und so danken Sie es mir!"

Randolph zwang sich, sich zu beruhigen. Sein Blut kochte heiß und er registrierte, dass er mit dem Revolver herumfuchtelte und mit ihm auf Charles den Schlächter deutete. Das ist doch genau das, was er will: Mich in Rage bringen!
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Beitrag von Scáth Di Sep 04 2012, 19:01

Johanna war nicht überrascht, dass Melinda geradezu geschockt reagierte. Etwas anderes hatte sie nicht erwartet, immerhin war ihre Reaktion nicht besser, als sie erkannte, dass da gerade ihr Vater vor ihr stand. Vermutlich hatte sie das noch mehr erschreckt. Wie sollte es einem auch gehen, wenn man seinen Vater sieht, den man in seinem Leben noch nie in die Augen gesehen hatte. Und plötzlich steht er vor einem, der gefürchtete Mörder, ohne auch nur ansatzweise zu wissen, wen er da vor sich hat.
Johanna hatte sich schon auf viele Fragen eingestellt, die Ms.Bolt ihr stellen würde, doch dazu kam sie nicht, denn aus dem Untergeschoss ertönten Stimmen, die nach kurzer Zeit immer lauter wurden. Hatte sich da etwa ein Streit angebahnt? Vor kurzer Zeit noch, war doch alles in Ordnung zwischen Charles und dem Arzt gewesen. Johanna versuchte angestrengt irgendwelche Worte zu verstehen, doch sie war zu weit vom Geschehen entfernt, um auch nur im geringsten mitzubekommen was da unten vor sich ging. Melinda schien sehr neugierig zu sein, und selbst Johanna musste sich eingestehen, dass sie nun gerne wüsste, was dort los ist.
"Vielleicht sollten wir uns etwas beeilen. Ich glaube da unten geht es nicht gerade friedlich zu.", antwortete Johanna, stand vom Bett auf, und folgte Melinda die Treppen hinunter.
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Beitrag von Druzil Di Sep 04 2012, 20:29

Alan beobachtete äusserst interessiert das Treiben der beiden. Er hatte durchaus damit gerechnet, dass ihre Aussage, über ihren Wohnort, der Wahrheit entsprach und tat dies noch immer, aber diese Entwicklung war so merkwürdig und faszinierend zugleich, dass er froh war ihnen gefolgt zu sein.
Alan konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was die zwei hier fertigen liessen und zu welchem Zweck. Möglicherweise stellte diese Fabrik ihren Broterwerb dar, aber selbst der leidenschaftlichste Geschäftsmann suchte seinen Arbeitsplatz nicht mitten in der Nacht auf und wenn doch, dann wohl kaum in Begleitung seiner Frau.
Alan wurde bewusst, dass er nun äusserst vorsichtig vorgehen musste. Dem Paar in die Halle zu folgen wäre verrückt gewesen, auch wenn die Neugier an ihm zu nagen begann. So eilte er schnell und ohne Rücksicht darauf Geräusche zu machen, der Lärm würde seine Schritte übertönen, an dem Zaun entlang, um das Gebäude zu umrunden, Hinweise zu finden und nach weiteren Eingängen Ausschau zu halten.
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Götterblut - Kapitel 1: Ein (un)moralisches Angebot - Seite 6 Empty Re: Götterblut - Kapitel 1: Ein (un)moralisches Angebot

Beitrag von Umbra Mi Sep 05 2012, 14:49

Dr. Tremaine reagierte, wie gehofft, zornig und lautstark auf die Worte, die Charles ihm an den Kopf geworfen hatte.
Ja, schreie ruhig herum, dachte er nicht unzufrieden, aber ließ sich davon nichts anmerken. Wecke alle auf. Es ist besser so, für uns beide.
Solange der Arzt aufmerksam und schussbereit war, würde Charles allein nicht davonkommen – so viel war klar. Er müsste warten, bis sich eine Gelegenheit bietet, in der er den Chirurgen überwältigen konnte. Und das wollte er ungern tun. Er war nicht gewalttätig, wenn er es verhindern konnte.
Doch in der Not frisst der Teufel Fliegen.

Dennoch musste er sich auch verbal zurückhalten, um dem Arzt bei dessen Wutanfall nicht ins Wort zu fallen.
Nein, schweigen, so wie es sein Gegenüber wollte, würde er garantiert nicht! Wer ihm den Mund verbieten wollte, hatte selten das Glück, dass Charles das beherzigte. Gerade den herrischen Befehlston, den auch der Arzt an den Tag legte, erwiderte Charles stets mit Sturheit und aufkommender Wut. Er hatte sich so etwas sein Leben lang anhören müssen! Gehorsamkeit war ein Konzept, das er inzwischen abgelegt hatte. Charles entschied selbst, was er tun und lassen wollte, dazu gehörte auch, dass er sagte oder nicht sagte, was wollte, und wie es über seine Lippen kam.
Zähneknirschend und beim Atmen wütend schnaubend hörte er sich die Beleidigungen, Beschuldigungen und Anmaßungen an, aber zumindest hatte er Dr. Tremaine in eine Position gebracht, in der dieser Verteidigungsstellung einnahm und ihm Ansatz gab, die Situation zugunsten seiner eigenen Position zu kippen.
Nun bist du nicht mehr so überlegen, wie du denkst! Wer von uns beiden ist hier arrogant?

Charles hoffte, dass die ihre momentane Lautstärke ausreichte, um Ms. Bolt und Ms. Stead auf sie aufmerksam zu machen. Die beiden würden bestimmt herbeieilen, um zu sehen, was zwischen Dr. Tremaine und ihm vor sich ging.
Ob Melinda wahrgenommen hatte, wo Charles sein Gewehr gelassen hatte? Aber bewaffnet, und damit überzeugend, war Ms. Bolt auch ohne dieses; das hatte Charles deutlich gesehen, als er die bewusstlose junge Frau flüchtig durchsucht hatte und dabei – überraschenderweise – auf eine Wristgun und einen Klingenfächer gestoßen war.
Doch würde sie einfach nur den Streit beenden wollen oder sich auf eine Seite schlagen? In dem Fall konnte Charles nicht einschätzen, für wen sie sich entscheiden würde. Er wusste nicht, wie sie zu Dr. Tremaine stand, aber dem Anschein nach herrschte ein vertrautes Klima zwischen den beiden – zumindest von Melindas Seite aus, der Doktor hatte sich ziemlich kalt gegeben. Außerdem: Was hatte er, Charles, schon zu bieten, dass sie sich für ihn einsetzen würde?
Aber, was er positiv sah, war, dass er sie entführt und ihr die Wahl gelassen hatte und sie daraufhin zurückgekehrt war und sich sogar fürsorglich um ihn gekümmert hatte. Und da war da noch Ms. Stead, die verwunderlich, aber positiv auf ihre Geiselnahme reagiert hatte.
Charles fand, dass seine Chancen unter den Umständen gar nicht so schlecht standen, dass die Damen ihm helfen würden. Doch dazu müssten sie erst einmal mitbekommen, dass er in Schwierigkeiten war.

Jetzt, da er Dr. Tremaine aus der Reserve gelockt hatte, sodass dieser sogar mit dem Revolver in der Hand zornig herumgestikulierte, war es an der Zeit, nachzusetzen und einige Dinge klar und richtig zu stellen.
Charles wartete, bis der Arzt seinen Vortrag beendet hatte, und antwortete auf diesen – noch immer mit lauter Stimme und verstimmt, wenn auch gefasster als zuvor.
„Zweifel hatten Sie, tatsächlich?“, hakte er mit gespielter Verwunderung nach und musste auflachen. „Mir ist vollkommen von gleich, ob Sie glauben, ich wäre ein Massenmörder oder nicht! Ich weiß“, betonte er und tippte sich dabei mit dem Finger auf die Brust, „dass ich es nicht bin – aber das wird mir wohl kaum weiterhelfen!“
Nun begann auch Charles, zu gestikulieren.
„Ignorantes Pack wie Sie sehen mein Gesicht auf diesen Plakaten und hören die Gerüchte, die über mich im Umlauf sind, und schon macht es keinen Sinn mehr, was ich tun oder sagen könnte, um gegen diese Lügen anzugehen – ich bin für alle sowieso ein blutgieriger Sadist, dem das Verschandeln und Schänden von Leichen Lust bereitet!“, rief er abfällig aus.
Allein das auszusprechen widerte Charles an, aber das glaubte man ihm sowieso nicht. Eigentlich macht es keinen Sinn, es war Verschwendung von Zeit und Atem, das auszusprechen. Dr. Tremaine hatte sich bereits, geleitet von der nur allzu verbreiteten Angewohnheit, sich durch Vorurteile in seiner eigenen Meinungsbildung beeinflussen zu lassen, diesen hingegeben.
Aber nicht nur Randolph Tremaines Ansichten, was die Morde und Charles‘ Verbindung zu diesen betraf, ärgerte ihn. Der Arzt stellte ihn als begriffsstutzig, scheinheilig und selbstsüchtig dar – Anschuldigungen, die er nicht auf sich sitzen lassen würde.
„Halten Sie mir nicht vor, dass ich nicht wüsste, was es bedeuten würde, an meiner Seite erwischt zu werden! Ich habe die vergangen zwei Monate aus Rücksicht auf die Gefahr, die ich allein durch meine Anwesenheit für andere darstelle, zu kaum einer Menschenseele Kontakt gehabt!
Denken Sie vielleicht, dass das einfach für mich war? Denken Sie etwa, ich hätte das freiwillig auf mich genommen, wenn es auch anders gegangen wäre? Es hat mich beinahe in den Wahnsinn getrieben vor Langeweile, während ich mich versteckt und ausgeharrt habe, das verrate ich Ihnen!“
, spie er aus.
„Soll Hill mir doch jeden Lakai hinterherjagen, den er aufbieten kann! Ich bin bisher mit ziemlich eindeutigem Erfolg davongekommen, wie Sie anhand dessen, dass ich hier gerade in Ihrem Wohnzimmer stehe, erkennen können. Wenn mich jemand bei Ihnen aufspürt, dann ist das allein Ihr Werk!“, stellte Charles klar und wies Dr. Tremaine damit zurecht. „Ich buhle nicht um Aufmerksamkeit, indem ich Fahndungsplakate auf öffentlicher Straße abreiße! Aber dass ich hier bin, ist ja wohl kaum meine Schuld, mein Guter. Wenn es nach mir gegangen wäre, wären wir noch nicht einmal zu Ihnen gekommen! Und, wie Sie sich sicher noch erinnern können, waren es Sie, der mich eingeladen hat, zu bleiben!
Ich bin in vollkommen friedfertiger Absicht hierhergekommen, habe weder Waffen noch meine Stimme gegen Sie erhoben. Sie hingegen schleichen sich an mich heran, wecken mich unfreundlich, bedrohen mich mit meinem Revolver, den Sie mir zuvor entwendet haben, werfen mir diesen verfluchten Wisch vor die Füße und verlangen dann auch noch, dass ich ruhig und höflich bleibe? Dass ich Ihnen sogar dankbar dafür bin?
Sie sind ein äußerst seltsamer Mann, Dr. Randolph Tremaine – hat Ihnen das schon einmal jemand gesagt? Meine Dankbarkeit für Ihre Hilfe mit meiner Verletzung und der anschließenden Einladung reichte genau bis zu diesem Punkt hier – und keinen Moment weiter! Vielleicht“
, schlug Charles nicht ohne Spott vor, „sollten Sie das nächste Mal einen kurzen Augenblick nachdenken, bevor Sie mir mit so einem unsinnigen Geschwafel daherkommen!
Ich bin ein erwachsener Mann, wie Sie sehen, und ich kusche vor niemandem, der derart mit mir redet und Antworten fordert – selbst nicht mit der Schusswaffe in der Hand!“
, brauste Charles ein letztes Mal auf.
Mit dem Zorn und der Aufregung hatte ihn auch jetzt wieder die Schwächung eingeholt, die seine Wunde hervorrief. Das Blut pulsierte pochend durch seinen Schädel und Charles fasste sich, vom plötzlich wieder stechenden Schmerz aus dem Konzept gerissen, unwillkürlich an den Verband, den Dr. Tremaine ihm um den Kopf gewickelt hatte, als könne der leichte Druck auf die genähte Verletzung, die Charles so ausübte, den Schmerz bezwingen.
Ich soll mich schonen – schöner Rat, Herr Doktor, wenn Sie selbst dafür sorgen, dass ich ihn nicht einhalten kann!
Als er wieder Worte fand, war seine Stimme frei von Wut und unangemessener Lautstärke, sondern er hatte sich gefasst und klang beinahe schon resigniert, denn trotzdem es einen bewussten Zweck gehabt hatte, tat es ihm leid, dass er dermaßen ausfällig geworden war: „Ich bin bereit, mich vernünftig mit Ihnen zu unterhalten, wenn Sie ebenfalls etwas Vernunft annehmen, Dr. Tremaine. Danach können Sie mich immer noch in fürsorgliche Obhut der hiesigen Ordnungsmächte geben – vielleicht kann ich hinter Gittern wenigstens ruhig schlafen“, fügte Charles hinzu und ließ sich, immer noch mit der Hand auf dem Verband, zurück auf die Couch fallen.
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Beitrag von Elli Mi Sep 05 2012, 15:31

Überrascht hatte es Melinda ein wenig, dass Johanna ihr fast sofort gefolgt war. Melinda war darauf bedacht so leise wie möglich die Treppe hinunterzusteigen, doch einen Grund dafür gab es nicht wirklich. Auch wenn sie nicht alles verstanden hatte, was der Arzt gesagt hatte, waren doch die Worte die Norly durch den Raum warf deutlich zu hören. Überrascht stellte fest das sie begann schneller zu gehen und die Geräusche die ihre eiligen, nackten Füße auf der Treppe immer lauter zu hören waren. Sie war wütend! Zwar hörte sie nur das was Norly zu sagen hatte, aber daraus erschloss sich für Melinda, dass was der Arzt gesagt haben mochte. Sie hatte sich lange genug von Männern sagen lassen, was sie zu tun hatte und heute Abend reichte es ihr endgültig. Ohne auf Johanna zu achten sprang sie einfach über die letzten Stufen hinab. Bei der Landung knickte sie leicht mit dem Knöchel ab, was sie zu einem lauten Fluch veranlasste. "Verdammte Scheiße!"
So schnell es ihr mit dem schmerzenden Knöchel gelang humpelte sie völlig in Rage in das Wohnzimmer. Der Anblick der sich ihr bot, ließ sie noch wütender werden, wenn das überhaupt möglich war. Der Doktor stand da und zielte mit einem Revolver auf Norly. Einerseits konnte sie es ja verstehen, aber das Bild erinnerte sie stark an den betrunkenen Choleriker der sich mit ihm Haus befunden hatte. Wie hieß er noch gleich? Melinda war viel zu erbost um klar zu denken. Das war sie nun tat, war vermutlich sehr dumm, doch das hinderte sich daran es zu tun. Sie baute sich, mit dem Rücken zu Norly, vor dem Doktor auf, der gut eineinhalb Köpfe größer war als sie selbst und sah ihn einen Moment , mit vor Zorn verengten Augen, an. Ihr Stimme jedoch klang erstaunlich ruhig. Ruhiger als Melinda es sich zugetraut hätte. “Du traust mir also zu, dass ich einen Massenmörder in dein Haus schleife und mich dann seelenruhig ins Bett lege und schlafe, während er mit im Haus ist? Das ist ja wirklich sehr nett von dir, Randolph! Wirklich sehr, sehr NETT! Außerdem fuchtelt man nicht mit Waffen herum wenn man mit Menschen spricht! Es sind wohl in diesem Raum alle alt genug um vernünftig miteinander reden zu können! Ich habe mich immer sehr zurückgehalten bei dir Randolph, weil ich dich sehr mag, aber das geht wirklich zu weit! Leg‘ den Revolver weg bevor du dir weh tust! Die einzige Waffe, die du wirklich bedienen kannst ist wohl dein Skalpell!“ Es mag ungerecht sein die Unterhaltung zu sprengen, wenn man es überhaupt Unterhaltung nennen konnte, aber Melinda hatte sich einfach nicht mehr bremsen können. Mit zu Fäusten geballten Händen standen sie schwer atmend vor dem Doktor und drehte sich dann zu Norly um. “Wenn sie noch lauter reden, steht gleich ganz Soho vor der Tür!“ Sie ließ sich neben Norly auf die Couch fallen und warf einen Blick auf den Verband, den er sich hielt. “Das wird ihrer Wunde gar nicht gut tun, sich so aufzuregen.“
Sie zog ihr Bein nach oben und begann ihren Knöchel zu massieren.
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Götterblut - Kapitel 1: Ein (un)moralisches Angebot - Seite 6 Empty Re: Götterblut - Kapitel 1: Ein (un)moralisches Angebot

Beitrag von Darnamur Mi Sep 05 2012, 22:18

Randolph hatte sich inzwischen wieder beruhigt und sich in den Sessel sinken lassen. Nachdem er begriffen hatte, dass sein Gegenüber ihn offensichtlich nur aufstacheln wollte, hatte er sich dazu gezwungen, sich nicht weiter aufzuregen und erst recht nicht wie bescheuert mit dem Revolver herumzufuchteln, was sicher nicht gerade respekteinflößend wirkte.
Als Charles auf seine Unschuld zu sprechen kam, zwang sich Randolph, nicht laut aufzulachen. Norlys Worte wirkten nicht unbedingt glaubwürdig, nachdem er zuerst versucht hatte, ihn in die Enge zu treiben und ihn dann in Rage zu bringen. Der Doktor ließ den Vortrag über sich ergehen. Ich bin bereit, mich vernünftig mit Ihnen zu unterhalten, wenn Sie ebenfalls etwas Vernunft annehmen, Dr. Tremaine. Doch Dr. Tremaine war längst nicht mehr bereit, sich vernünftig mit seinem Patienten zu unterhalten. Er war sich sicher, dass nichts, was der Mann noch sagen konnte, ihn von seiner Unschuld überzeugen konnte. Dazu war es bereits zu spät. Dann flog die Tür auf und Melinda eilte heran. Er zuckte zusammen, als sie auf ihn einredete. Sie schien fest von Norly überzeugt zu sein. Randolph ließ sich noch weiter in das Polster sinken. Er wusste, dass er verloren hatte. Sein Plan war drastisch fehlgeschlagen. Scarface würde sich nicht so einfach abführen lassen. Er würde ihn töten müssen. Und das konnte Randolph nicht. Seine Finger, die den Revolver hielten, zitterten. Wenn er diesen Mann tötete, würde er London einen großen Dienst erweisen, doch er konnte es einfach nicht. Niemals werde ich vergessen, was ich getan habe! Niemals durfte er vergessen! Er hatte nicht das Recht, über das Leben dieses Menschen zu urteilen.

"Vater?", fragte Randolph und betrat vorsichtig das Schlafzimmer seiner Eltern. Dort lag er - Edmure Tremaine. Ein robuster Mann mit bereits ergrautem Haar, einer hart gekrümmten Nase und blauen Augen. Randolph konnte im durch das Fenster einfallendem Licht erkennen, wie sich ein langer Wasserfall aus Schweiß über das Gesicht und den Oberkörper des Chirurgen ergoss. Edmure blinzelte, als er seinen Sohn erkannte: "Randolph! Warum bist du hier? Hast du keine anderen Patienten zu behandeln? Ich werde diese Grippe schon überstehen!" Der Tonfall seines Vaters war harsch und anklagend. Randolph zuckte zusammen. "Nichts Schlimmeres, Vater!", brachte er mit trockener Kehle hervor. "Ich wollte nur kurz nachsehen, ob es dir gut geht!" "Schön, dann weisst du es jetzt!", knurrte Edmure. "Und jetzt mach dich wieder an die Arbeit! Regel Eins: Ein Chirurg muss immer bereit zur Operation sein! Dabei gilt es, andere Aspekte zu ignorieren. Die Aufmerksamkeit des Chirurgen gilt immer dem Patienten, der seiner Hilfe am meisten bedarf!" Vor Randolphs Augen taten sich abscheuliche Bilder auf. Schreiende Frauen, abgetrennte Beine, ein verendetes Kleinkind von fünf Jahren, das ihn aus leblosen Augen anstarrte. Randolph hasste sein Handwerk, doch er tat es. Sein Vater war krank und er musste die Praxis übernehmen. Und außerdem: alles, was er wusste, konzentrierte sich auf den Bereich der Chirurgie. Hier war er ausgebildet worden.
"Ja, Vater!", flüsterte er. "Ich mache mich wieder an die Arbeit!" In all den Jahren hatte er stets versucht, etwas mehr Selbstbewusstsein zu gewinnen, doch im Angesicht seines Vaters fühlte er sich stets hilflos und klein. Er drehte sich um, um Edmure nicht länger in die unbarmherzigen blauen Augen blicken zu müssen, und wollte sich schon wieder auf den Rückweg machte, als die Worte seines Vaters ertönten: "Einen Moment noch, Randolph!" Randolph biss die Zähne zusammen und drehte sich um. Edmure hatte sich aufgerichtet und saß nun auf seinem Bett: "Gibt es etwas, das du mir gestehen musst?" In den Augen seines Vaters lag Zorn.
Randolph schluckte seinen bitteren Speichel herunter und zwang sich Edmure in die Augen zu blicken: "Wie meinst du das, Vater?" Edmures Gesicht lief rot an: "Spar dir das Affentheater! Du weißt ganz genau, wovon ich rede!" Randolph ging unbewusst ein paar Schritte rückwärts. Das schien seinen Vater nur noch wütender zu machen: "Kannst du nicht einfach stehen bleiben und mir in die Augen sehen wie ein erwachsener Mann mit Rückgrat! Was ist mein Sohn nur für ein Weichei! Ich kann nicht glauben, dass du von meinem eigenem Fleisch und Blut bist! Also ich höre..."
Randolph brachte keinen Ton hervor und starrte den kranken Mann, der sich mittlerweile erhoben hatte, erschrocken an.
"Soll ich deinem Gedächtnis etwa auf die Sprünge helfen? Ich rede von dieser Hure, wie hieß sie noch gleich..." Die Worte trafen Randolph wie ein Schlag ins Gesicht. "Sie heißt Lynette. Wir...wir lieben uns und..."
Edmure lachte trocken: "Eine Hure und lieben! Die dreckige Schlampe will doch nur an unser hart verdientes Geld! Und DU wirst dich in Zukunft von ihr fernhalten, damit das klar ist! Soweit kommt es noch, dass mein Sohn eine billige Hafenhure heiratet. Widme deine Arbeit lieber unserer Praxis, damit sie in meiner Abwesenheit nicht den Bach heruntergeht! Bald wirst du sie ohnehin alleine führen müssen!"
"Das ist es, was du willst. Spielt es eine Rolle, was ICH will? Ich ertrage diesen Beruf nicht mehr! Und ich werde mir von dir nicht meine Geliebte wegnehmen lassen. Nicht sie auch noch!"
Randolph wurde sich bewusst, dass er gerade seinen Vater angeschrien hatte. Der schnaubte abfällig. "Komm mir nicht schon wieder damit! Das haben wir doch schon dutzende Male besprochen! Willst du denn später wirklich in der Gosse landen? Das Chirurgenhandwerk ist das einzige, was du beherrschst. Und wie sonst willst du mich und deine kranke Mutter versorgen, wenn wir selbst nicht mehr dazu fähig sind? Ich habe dir das Alles beigebracht und es soll NICHT umsonst gewesen sein. Du bist zu einem brauchbaren Chirurgen geworden und es wird sich auch sicherlich noch eine angemessene Ehefrau für dich finden - aber nicht dieses... dieses... Straßenmädchen!" Er spie die Worte förmlich aus. Dann krümmte er sich plötzlich und hustete. Speichel flog aus Edmures Mund und sein Oberkörper bog sich vor und zurück, als er hustete. Das Gesicht von Randolphs Vater lief dunkelrot an.
Randolph eilte zu ihm und zwang ihn, sich hinzulegen und sich zu beruhigen. Mit einem nassen Lappen wischte er das verschwitzte Gesicht seines Vaters ab. Edmures Atem ging ruhiger. Randolphs Vater lächelte: "Gute Arbeit, mein Sohn! Ich sagte doch, du seist ein brauchbarer Chirurg. Und jetzt bring deinem Vater einen Kaffee und mach dich endlich wieder an die Arbeit!"
"Ja, Vater!", flüsterte Randolph finster und starrte auf seinen Patienten herab. Fast wünschte er, sein Vater wäre an dem Hustenanfall verendet. Im nächsten Moment erschrak er sich über die eigenen Gedanken. Das konnte unmöglich sein Ernst sein! Doch das entsprach nicht der Wahrheit.
Als Randolph zurückkehrte, verkrampften sich seine dürren Finger um die Kaffeetasse, die er am Nachttisch seines Vaters abstellte und dabei fast einen Teil der schwarzen Brühe verschüttete. "Hier Vater- dein Kaffee!", sagte er leise. Edmure nahm mit Argwohn zur Kenntnis das die Finger seines Sohnes - die Finger eines Chirurgen - derart unruhig waren. Er beließ es allerdings bei einem "Danke! Mach dich wieder an die Arbeit!". Randolph verließ den Raum und Edmure Tremaine trank seinen letzten Kaffee.

Randolph wurde sich bewusst, dass seine Gegenüber - mittlerweile zu dritt - ihn musterten. Er wusste nicht, ob sie gerade etwas gesagt hatten, aber sie warteten immer noch auf eine Reaktion seinerseits. Randolph ließ die Pistole sinken. Nein, er würde keinen Menschen umbringen können. Nicht nach Edmure. Aber er war auch nicht mehr länger bereit, zu reden. Der Doktor erhob sich: "Mr. Norly! Fangen Sie!" Er schleuderte die Pistole seinem Gegenüber zu: "Mein Leben liegt jetzt in Ihren Händen und ich habe meinen einzigen Vorteil Ihnen gegenüber verloren! Vielleicht sind sie wirklich kein Mörder! Sie können vielleicht gut sprechen, aber ich glaube trotzdem nicht, dass Sie Melinda sonst so gut hätten überzeugen können! Aber sieh mich an, Narbenfresse! Ich bin ein Mörder! Ich habe meinen eigenen Vater umgebracht und ihn bei seinem Todeskampf mit Erleichterung zugesehen. Es war keine Pistole gewesen - nein. Es war Gift in wohl dosierter Form, das ich ihm einflößte, als er an einer Grippe litt. Ich, Dr. Randolph Tremaine, habe meinen eigenen Patienten und zugleich meinen eigenen Vater getötet!"
Randolph lächelte Mr.Norly mit einem Lächeln an, das andere als wahnsinnig bezeichnen würden. "Was ist mit Ihnen, Charles? Haben Sie das Zeug, einen Mörder umzubringen!"
Randolph wusste, dass er gerade den größten Fehler seines Lebens begangen hatte, doch es war ihm mittlerweile egal. Er hasste die ewigen Lügen. Die stummen Vorwürfe, die ihm seine Verwandten entgegenbrachte. Er hasste das abstoßende Antlitz von Mr.Norly und seine ehrenhafte Ader, mit der er das Vertrauen der beiden Damen gewonnen hatte. Er beneidete ihn darum, denn so würde er nie sein können. Er hasste Melinda ungerechtfertigerweise, weil sie sich gegen ihn gewandt hatte, obwohl sie Scarface sicherlich weniger lang kannte als ihn selbst, und er hasste auch Ms.Stead, die ihn erschrocken anstarrte und die ihn daran erinnerte wie er hilflos vor seinem Vater gestanden hatte. Und am meisten von Allen hasste Randolph Tremaine sich selbst. Sein Selbstmitleid. Sein Vergangenheit. Und den Menschen, der aus ihm geworden war.


Zuletzt von Darnamur am Do Sep 06 2012, 14:32 bearbeitet; insgesamt 1-mal bearbeitet
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Götterblut - Kapitel 1: Ein (un)moralisches Angebot - Seite 6 Empty Re: Götterblut - Kapitel 1: Ein (un)moralisches Angebot

Beitrag von Druzil Do Sep 06 2012, 09:34

Alan hatte die Halle umrundet und war missmutig wieder am Ausgangspunkt seiner Erkundung angekommen.
Das Gebäude war von stattlicher Grösse, aber nicht riesig. Es verfügte über ein Eingangstor, das solide verschlossen war und einen weiteren Eingang, womöglich für Lieferanten, der aber ebenfalls versperrt wirkte. Zwar gab es Fenster, aber diese waren hoch eingelassen und ihre Scheiben schlierig und ölig verstaubt, sodass jeder Versuch einen Blick hindurchzuwerfen sinnlos gewesen wäre. Unablässig konnte Alan die metallenen Arbeitsgeräusche vernehmen, die aus der Halle echoteten, aber einen rechten Reim darauf, was dort zu später Stunde gefertig wurde, konnte er sich nicht machen.
Frustriert trat er gegen einen Stein und beförderte ihn die Strasse hinab.
Sollte er blindlings durch den Hintereingang eintreten?
Alan starrte auf die Tür, durch die Mr. C und seine Begleitung vor kurzem gegangen waren. Die Idee schien ihm immer noch eine Dummheit zu sein und eine Risikoreiche obendrein. Er würde warten, beschloss er, auch wenn Geduld und Ausdauer nicht zu seinen Stärken zählten. Aber eine halbe Stunde würde er schon rumkriegen.
Alan entfernte sich ein Stück von der Werkhalle, in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und kauerte sich hinter die nächste Hausecke. Er hatte einen halbwegs passablen Blick auf die Hintertür und das Licht der Laternen war hier diffus und kaum mehr als ein hilfloses Schimmern. Sollten ihn die Zwei, beim Verlassen der Halle, tatsächlich entdecken, würden sie wohl eher ein Bündel Unrat, oder einen Obdachlosen vermuten, der im Suff zusammengesunken war. Eine Erfahrung, die Alan durchaus bereits gemacht hatte, wie er sich eingestehen musste, wenn er an so manchen Morgen dachte, an dem er an Orten aufgewacht war, die ihm gänzlich unbekannt waren.
Alan unterdrückte ein Gähnen und behielt die Tür im Auge.
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Götterblut - Kapitel 1: Ein (un)moralisches Angebot - Seite 6 Empty Re: Götterblut - Kapitel 1: Ein (un)moralisches Angebot

Beitrag von Umbra Do Sep 06 2012, 18:19

Alan musste nicht lange warten, bis er von seinem Beobachtungsposten aus ausmachen konnte, dass sich auf dem Hallengelände etwas tat. Kaum zehn Minuten nachdem er sich hinter der Hausecke mehr oder minder versteckt hatte, damit seine Zielpersonen ihn nicht als Zuschauer und Zeugen ihrer geheimnisvollen, nächtlichen Unternehmung erkannten, öffnete sich der Hintereingang des Fabrikgebäudes mit einem erneuten, bleischweren Ächzen, begleitet von dem dadurch für kurze Zeit lauter werdenden Maschinenlärm, der zu Alan herüberdrang und wirklich ohrenbetäubend sein musste, wenn man sich direkt vor Ort, in der Halle, aufhielt.
Es war die schmächtige Gestalt von Mr. C., die aus dem glutrotem Schein im Inneren des Gebäudes in die vom fahlen Mondlicht und flackernden Gaslaternen beleuchtete Nacht schlüpfte und sich dabei mit der Schulter gegen die massige Tür lehnte, um sie einfacher aufdrücken zu können.
Er war allein und blieb allein, denn Angel tauchte nicht an seiner Seite auf und er wartete auch nicht auf sie. Mit zielstrebigen, bestimmten Schritten entfernte sich der Mann von der Werkhalle. Im Gehen griff er sich in seine Manteltasche und Alan erkannte, dass Mr. C. offenbar wieder einmal eine Zigarette hervorzog und sich diese in seinen grimmig verzogenen Mund klemmte. Der Mann fingerte gerade an seinem Feuerzeug herum, das er mit der linken Hand vor der leichten Brise abschirmte, die um die Gebäude strich, als die Tür hinter ihm zuschlug. Er drehte sich nicht um, zuckte bei dem plötzlichen Geräusch noch nicht einmal zusammen, sondern wurde erst langsamer, als er schließlich wieder am Loch im Zaun angekommen war, durch das Angel und er das Werkhallengelände betreten hatten.
Mr. C. stieg durch die Lücke im Drahtgitter und trat wieder auf den gepflasterten Gehsteig und dann feuchte, erdige Straße. Ab hier schien er es weniger eilig zu haben, sondern sah sich kurz nach links und rechts um und schlug dann mit gemütlichen Schritten die Richtung ein, aus der er zuvor Seite an Seite mit seiner Frau – und gefolgt von Alan – gekommen war.
Damit kam Mr. C. jedoch direkt auf seinen Beobachter zu, der im Schatten der Hausecke auf ihn wartete. Tatsächlich bemerkte er Alan sogar – und schnippte ihm beiläufig einen Penny zu, der dem vermeintlichen Obdachlosen an der Brust traf, abprallte und dann klimpernd auf dem Gehweg landete.
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